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Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

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Die Insel ist endlich und überschaubar, sie hat einen Rand, den man<br />

abschreiten kann. Das ist sehr wichtig! Ich selbst fühle mich erst dann<br />

auf einer Insel zu Hause, wenn ich sie einmal ganz umrundet habe. Das<br />

muss an einem Tag möglich sein, sonst handelt es sich <strong>für</strong> mein Empfinden<br />

nicht mehr um eine Insel. Auch die Zahl der Bewohner muss<br />

sich in Grenzen halten. Auf einer richtigen Insel kennt jeder jeden. Die<br />

Haustüren werden nicht abgeschlossen. Die Insel ist ein Ort des Vertrauens.<br />

Die Insel ist ein Stück Land in der Gewalt des Wassers. Die<br />

Klippen erbeben, wenn sich die Sturmfluten an ihnen brechen. Der<br />

Wind ist feucht und salzgeschwängert. Die Monumente der Zivilisation<br />

zerfallen auf der Insel rascher als auf dem Festland, die Elemente gebärden<br />

sich launisch und ungezähmt.<br />

Abgeschiedenheit in der Weite, idyllische Geborgenheit, Offenheit<br />

<strong>für</strong> die Natur – all das macht die Insel zu einem Spiegel des romantischen<br />

Menschen. In ihr entdeckt er sich selbst, als Individuum abseits<br />

der Gesellschaft, als in sich ruhendes, in sich stürmendes Ich.<br />

Aber wenn Rousseau Inseln so toll und romantisch fand, was war<br />

dann so übel an der Isolation?<br />

Betrachten wir die Kehrseite der Medaille: Weiß Gott nicht alle Inseln<br />

erfreuen sich eines guten Rufes. Ich spreche nicht von Mallorca,<br />

ich meine Orte wie die Teufelsinsel, Sachalin oder Alcatraz, deren Namen<br />

zu Metaphern der Hoffnungslosigkeit geworden sind. Wenn die<br />

Verbindung zum Festland abreißt oder durch Zwang abgebrochen<br />

wird, verwandelt sich das Asyl der Unabhängigkeit in ein ausbruchsicheres<br />

Gefängnis. Nicht nur die Seligen, auch die Verdammten leben<br />

auf einer Insel.<br />

So ist es auch in der Seele.<br />

Die Weltflucht wird zum Verhängnis, wenn man vergessen hat, eine<br />

Rückfahrkarte zu lösen. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang<br />

von einer schizoiden Persönlichkeit. Der Schizoide tut alles, um<br />

sich das zu erhalten, was er seine Unabhängigkeit nennt. Er verbarrikadiert<br />

sich gegen die Gefühle anderer und erdrosselt die eigenen. D. H.<br />

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