02.02.2013 Aufrufe

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

�<br />

Im Ernst: Können wir Wohlstandskinder mit gutem Gewissen mehr<br />

Rechte <strong>für</strong> uns einfordern, wenn wir gleichzeitig die krasseste Ungerechtigkeit<br />

achselzuckend dulden oder ausnutzen? Ich denke, um nur<br />

ein Beispiel zu nennen, an den indischen Gerber, der sich <strong>für</strong> ein paar<br />

Rupien die Gesundheit ruiniert, damit wir in Europa »günstig« Schuhe<br />

kaufen können. Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Elend<br />

liegt so nah: Warum haben Kinder kein Vetorecht, wenn ihre Eltern<br />

sich scheiden lassen wollen? Sind sie nicht in allen Fällen direkt betroffen<br />

und in vielen Fällen die Hauptleidtragenden? Sie werden enteignet,<br />

entwurzelt und – in einer alltäglichen Neuinszenierung des Kaukasischen<br />

Kreidekreises – zerrissen, nur weil ein Elternteil oder beide auf<br />

ihrem Recht bestehen, sich selbst zu verwirklichen. Nein, die Forderung<br />

nach Gleichberechtigung, wenn sie einzig von Selbstsucht diktiert<br />

wird, verdient nicht unbedingt einen Orden.<br />

Und jedes Recht, ob vom Staat eingeräumt oder vom Schicksal,<br />

bringt die Pflicht mit sich, dieses Recht gut zu gebrauchen. Freiheit verpflichtet<br />

uns, die Freiheit anderer zu achten. Eigentum verpflichtet zur<br />

Gemeinnützigkeit. Gesundheit und Jugend verpflichtet uns, den Alten<br />

und Gebrechlichen beizustehen. So halten sich Rechte und Pflichten<br />

ungefähr die Waage, und das ist der Sinn des Menschheitsvertrages.<br />

�<br />

Aber was moralisiere ich! Ein echter Philosoph schwebt über diesen<br />

Dingen. Rechte, Pflichten – alles gilt ihm gleich, solange er in sich<br />

selbst ruht. Adiaphoría, »Unterschiedslosigkeit«, nannten die Stoiker<br />

diese göttliche Gleich-Gültigkeit der Weisen, die Reichtum nicht höher<br />

schätzt als Armut, Armut nicht höher als Reichtum, Macht nicht höher<br />

als Schwäche, Schwäche nicht höher als Macht, Freude nicht höher als<br />

Trauer, Trauer nicht höher als Freude.<br />

Wem alles Äußerliche gleich ist, weil er es als Illusion durchschaut, in<br />

dessen Seele zieht ein wunschloses Schweigen ein, sein Antlitz gleicht<br />

– 141 –

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!