Moser, Friedhelm - Kleine Philosophie für Nichtphilosophen.pdf
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Selbst der konservative Konfuzius verbrachte lange Jahre seines Lebens<br />
auf Wanderschaft, immer auf der Suche nach einem guten Fürsten, der<br />
ihm die Verwaltung seines Reichs anvertrauen würde.<br />
Nur Sokrates scheint eine Ausnahme zu sein. Er hat keine größeren<br />
Reisen unternommen, und als man ihm den Prozess macht, wählt er,<br />
statt nach Thessalien ins sichere Exil zu gehen, den Tod in seiner Heimatstadt<br />
Athen. Sein Freund Kriton drängt ihn zur Flucht. Der Philosoph<br />
antwortet, er habe in der Nacht einen Traum gehabt: »Es schien<br />
mir, als komme ein schönes, wohlgestaltetes Weib in weißem Gewande<br />
und rufe mich und spreche: ›Sokrates, in drei Tagen stehst du auf Phthias<br />
fruchtbaren Feldern.«‹<br />
Kriton glaubt schon, er habe gewonnen, denn Phthia liegt in Thessalien.<br />
Sokrates aber deutet den Traum anders. Die Botschaft der weißen<br />
Frau ist ein Zitat aus der Ilias. Achilles, der aus Phthia stammt, rüstet<br />
sich nach dem Streit mit Agamemmnon zur Heimreise und sagt:<br />
»Wenn der Klippenerschütterer Poseidon glückliche Fahrt mir gewähret,<br />
stehe ich in drei Tagen auf Phthias fruchtbaren Feldern. Vieles<br />
hab ich daheim, was ich beim Aufbruch hierher zurückließ ...«<br />
Achill leidet an Heimweh. Auch der alte Sokrates leidet an »Heimweh«.<br />
Er sieht keinen Sinn darin, ins Exil zu gehen, weil er bereits »in<br />
der Fremde« ist. Die Erde ist ein einziger großer Verbannungsort, und<br />
eine Stadt hier ist so gut wie die andere. Warum sollte er die Gelegenheit,<br />
vorzeitig in die wahre Heimat zurückzukehren, verstreichen lassen,<br />
um noch ein paar melancholische Jahre im Norden zu fristen?<br />
Das ganze Leben eine Etappe auf der Seelenwanderung, der Mensch<br />
ein Pilger, der Tod eine glückliche Heimkehr – diese Motive ziehen sich<br />
durch das Denken und Fühlen der Menschen, seit sie versuchen, ihr<br />
Leben zu begreifen. Und so ist der Aufbruch zu einer konkreten Pilgerfahrt<br />
– sei es nach Mekka, nach Lourdes oder als Sonnenanbeter nach<br />
Ibiza – vielleicht nur eine symbolhafte Handlung. Wenn Leben Unterwegs-Sein<br />
bedeutet, bedeutet Unterwegs-Sein Leben. Das ist zwar nicht<br />
logisch zwingend, aber seit wann gehorcht das Unterbewusstsein der<br />
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