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Bildung - Alles, was man wissen muss

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DIE GESCHICHTE EUROPAS 115<br />

halten als Symptom dafür gewertet wird, daß <strong>man</strong> zu den wenigen Auserwählten gehört,<br />

möchte jeder an sich die Zeichen der Gnade Gottes entdecken und verhält sich<br />

entsprechend. Calvins Lehre wirkte als sich selbst erfüllende Prophezeiung.<br />

Und sie enthielt ein eingebautes Immunsystem: Die ständige Sorge, ob <strong>man</strong> zu<br />

den Erlösten gehörte, machte Sonderleistungen wie Askese oder Standhaftigkeit unter<br />

Verfolgungen zu einem Erkennungszeichen der Erwähltheit. Man entwickelte ein<br />

Elitebewußtsein der Tugendhaften und fühlte sich als Gemeinschaft der Heiligen. Wer<br />

Calvinisten verfolgte, stärkte sie. Es war wie bei der paradoxen Freundschaft zwischen<br />

Sadisten und Masochisten.<br />

Als Calvin in Genf eintraf, wurde er Mitarbeiter des Reformators Farel, der gerade<br />

ein strenges Tugendregiment einführte. Dagegen rebellierte nun wieder die Partei<br />

der Libertins (in Calvins Gegenpropaganda nahm der Begriff die Bedeutung von<br />

Wüstling an) und jagte die Reformatoren aus der Stadt. Der katholische Bischof<br />

kehrte zurück und mit ihm die Unberechenbarkeit und die geschäftsschädigende<br />

Korruption. Zerknirscht riefen die Handelsherren Calvin zurück und übertrugen<br />

ihm alle möglichen Vollmachten.<br />

Calvin aber wurde zum protestantischen Ajatollah und schuf einen Gottesstaat.<br />

Wenn je irgendwo eine Utopie verwirklicht worden ist, dann in Genf unter der Leitung<br />

Calvins in der Zeit zwischen 1541 und 1564. Sie wurde zum Vorbild fast aller fundamentalistischen<br />

und puritanischen Gemeinden in Holland, England und Amerika.<br />

Das oberste Prinzip des Gottesstaates hieß: Recht und Gesetz der Gemeinde stehen<br />

in der Bibel. Die Interpretation dieses Gesetzes ist Aufgabe der Pastöre und Ältesten<br />

(Presbyter). Ihrem obersten Organ (in Genf dem Konsistorium) ist auch die<br />

weltliche Obrigkeit unterworfen. Das bedeutete die Errichtung einer Theokratie<br />

(Herrschaft Gottes) wie im alten Israel. Der Besuch des Gottesdienstes wurde zur<br />

Pflicht, und Tugend wurde zum Gesetz. Das Vergnügen oder, je nach Perspektive, das<br />

Laster wurde verboten. Im einzelnen wurden untersagt: unanständige Lieder, Tanzen,<br />

Würfeln, der Vollrausch, Kneipenbesuch, kulinarische Übertreibungen, Luxuskonsum,<br />

Theater, auffällige Frisuren und unsittliche Kleidung. Die Zahl der Gänge, die<br />

eine Mahlzeit haben durfte, wurde vorgeschrieben. Schmuck und Spitzen waren<br />

ebenso unerwünscht wie die Vornamen von Heiligen. Erwünscht waren biblische<br />

Vornamen wie Habakuk oder Samuel. Auf Unzucht, Ehebruch, Gotteslästerung und<br />

Götzendienst stand die Todesstrafe. Hingegen erlaubte Calvin das Verleihen von Geld<br />

gegen Zinsen (allerdings nicht zu Wucherzinsen).<br />

Die Erwähltheitsvorstellungen, die Schriftheiligkeit, die Orientierung nicht am<br />

Ge<strong>wissen</strong>, sondern am Gesetz, und die Erlaubnis, Geld gegen Zinsen zu nehmen, legte<br />

die Identifikation der Calvinisten mit dem Volk Israel nahe. Das trennte die calvinistische<br />

Mentalität von der lutherischen. Vor allem grub es dem Antisemitismus das

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