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Bildung - Alles, was man wissen muss

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DIE EUROPÄISCHE LITERATUR 217<br />

Es war die Form der exemplarischen Biographie mit periodischen Identitätskrisen<br />

und Häutungen. Diese Biographie stand wie die Hegelsche Geschichtsphilosophie<br />

unter dem Gesetz der Dialektik von Widersprüchen. Das Prinzip des dialektischen<br />

Widerspruchs muß <strong>man</strong> kennen, weil es als Denkfigur in der Neuzeit eine strategische<br />

Stelle besetzt hat: Es ist als Dreischritt von These, Antithese und Synthese bekannt<br />

geworden.<br />

Aber <strong>was</strong> bedeutet diese Formel im wirklichen Leben? Sie bedeutet ungefähr folgendes:<br />

Jede Position (Erfahrungsfigur, Weltanschauung, Lebenshaltung) kristallisiert<br />

durch ihre Begrenztheit an ihren Rändern Uneingelöstes, ungelenkte Energien, kurz:<br />

Überschüssiges, das sich nach und nach zu einer handfesten Gegenwelt auswächst.<br />

Das Ancien régime provoziert die Revolution, die Klassik die Ro<strong>man</strong>tik, die Whigs<br />

die Tories, die Utopie die Skepsis, die Aufklärung die Irrationalität etc. Das ist dann<br />

die Antithese. Schließlich überwuchert die Antithese die These. Es handelt sich aber<br />

nicht nur um eine schlichte Negation im Sinne einer bloßen Ablehnung oder Vernichtung,<br />

vielmehr wird diese ergänzt durch eine Form der Bewahrung in der Anhebung<br />

des Widerspruchs auf eine höhere Ebene durch die Synthese. Für diesen Vorgang<br />

prägte Hegel den Begriff der »dreifachen Aufhebung«: das ist Negation, Aufbewahrung<br />

und Anhebung auf eine höhere Ebene zugleich (siehe auch oben die<br />

Beschreibung der Komödie als Antagonismus von Vater – Liebhaber und anschließender<br />

Versöhnung im Fest).<br />

Warum beschäftigen wir uns mit dieser Sophistik?<br />

Weil Hegel glaubte, damit das Gesetz der Weltgeschichte gefunden zu haben, und<br />

Marx glaubte das auch. Aber in Wirklichkeit hat er ziemlich genau beschrieben, wie<br />

der Lebensro<strong>man</strong> einer Identitätsbildung verläuft. Hegel hat also die Krisen einer<br />

exemplarischen <strong>Bildung</strong>sbiographie beschrieben, wie sie Goethe den Deutschen vorgelebt<br />

hat.<br />

Im selben Sinne, wie die literarischen Werke zum Ausdruck der historischen Epochen<br />

wurden, wurden sie bei Goethe zum Ausdruck von Lebensphasen, in denen sich<br />

eine Folge exemplarischer Erfahrungen ausdrückte.<br />

Der <strong>Bildung</strong>sro<strong>man</strong> oder ein verspätetes Vorwort<br />

Goethes Leben und Dichtung wurden zur exemplarischen <strong>Bildung</strong>sbiographie der<br />

Deutschen, an der sich Generationen von Studienräten und <strong>Bildung</strong>sbürgern orientierten.<br />

In seiner autobiographischen Schrift Dichtung und Wahrheit und seinen <strong>Bildung</strong>sro<strong>man</strong>en<br />

Wilhelm Meisters Lehrjahre, Wilhelm Meisters Wanderjahre und Die Wahlverwandtschaften<br />

hat er seinen Lebensro<strong>man</strong> reflektiert.<br />

Und hier zeigt sich, warum das Konzept der <strong>Bildung</strong> so eng mit der Literatur und<br />

der Geschichte verflochten ist: Es schlägt sich in einer literarischen Form nieder,

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