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Bildung - Alles, was man wissen muss

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DIE EUROPÄISCHE LITERATUR 233<br />

Das Gefühl als ein alle Menschen vereinigendes Band, das auch die ständischen<br />

Grenzen überwindet (»Deine Zauber binden wieder, <strong>was</strong> die Mode streng geteilt…«).<br />

Es wird zum Kampfbegriff des Bürgertums in seiner Auseinandersetzung mit dem<br />

Adel. Dessen Sittenlosigkeit setzt es die Tugend entgegen. Vor diesem Hintergrund<br />

überträgt Richardson die Gegensätze zwischen Aristokratie und Bürgertum auf das<br />

neue Paar. Der Liebhaber ist ein Adliger, der männlich, aktiv und skrupellos sich der<br />

Tradition außerehelicher Liebschaften verpflichtet fühlt; die Heldin ist bürgerlich,<br />

passiv, häuslich, gefühlsbezogen und in punkto Sexualität absolut prinzipienfest und<br />

tugendhaft. Richardson projiziert also die ständischen Gegensätze auf die Geschlechter,<br />

sexualisiert sie und macht aus dem sozialen Konflikt einen Geschlechterkampf<br />

zwischen adligem Laster und bürgerlicher Tugend, in dem ein weiblicher Engel von<br />

einem männlichen Teufel belagert wird.<br />

Daraus gewinnt Richardson das Muster für den bürgerlichen Liebesro<strong>man</strong>: Eine<br />

bürgerliche Frau hält den zweideutigen Annäherungen des aristokratischen Mannes<br />

aus Tugendgründen so lange stand, bis dieser, völlig zermürbt, ihre Feinfühligkeit und<br />

ihre Wünsche zu respektieren gelernt hat und ihr einen Antrag macht. Erst dann darf<br />

die Frau auch ihre eigenen Gefühle entdecken und den bisherigen Quälgeist lieben.<br />

Damit werden zwei Stereotypen geschaffen, die 150 Jahre lang die Literatur beherrschen<br />

sollen: der aristokratische Verführer, an dessen offener Triebhaftigkeit die tugendhafte<br />

Heldin ihre eigenen verdrängten sexuellen Impulse schaudernd wahrnehmen<br />

kann, und die neue Heldin: jung, fragil, delikat, passiv, asexuell, tugendhaft und<br />

frei von Gefühlen gegenüber ihrem Bewunderer, bis sie geheiratet wird. Werden diese<br />

Grenzen überschritten, fällt sie in Ohnmacht.<br />

In sublimierter Form finden wir dieses Muster dann etwa bei Jane Austens Stolz<br />

und Vorurteil (der Aristokrat Darcy und die bürgerliche Elisabeth) oder in Charlotte<br />

Brontë’s Jane Eyre (der skrupellose Rochester und die tugendhafte Gouvernante). Richardsons<br />

Ro<strong>man</strong>e aber machten einen außerordentlichen Eindruck bei den Zeitgenossen,<br />

und die gesamte Geistlichkeit Europas atmete auf, weil die Literatur endlich<br />

die Tugend verherrlichte. Die Literatur hatte also ihr Thema gefunden: die Liebe und<br />

das Gefühl. Von da an widmete sie sich zunehmend diesem Gegenstand und wurde<br />

die Form, in der <strong>man</strong> öffentlich über Privates kommunizieren konnte. Sie wurde<br />

durch die stärkere Dramatisierung des Geschehens und durch die größere Leserbeteiligung<br />

selbst eine Art Intimkommunikation, indem sie durch ihre Suggestivität und<br />

ihre emotionale Ladung zum Miterleben verführte.<br />

Die Leiden des jungen Werthers<br />

Unter dem unmittelbaren Einfluß von Richardson schrieb Goethe dann das Gegenstück<br />

zu den weiblich akzentuierten Ro<strong>man</strong>en von Richardson – das Manifest des

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