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Bildung - Alles, was man wissen muss

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DIE EUROPÄISCHE LITERATUR 265<br />

IONESCO Was aber nicht weiter auffiel, denn er konnte schon von Anfang an nicht<br />

schreiben.<br />

SHAW Hör auf, Eugene! Was hältst du von Dr. Godits Idee, B.B.?<br />

BRECHT Es wäre ein interessantes Experiment. Statt euch immer nur selbst zu erklären,<br />

müßtet ihr nun mal Erklärungen für andere finden. Euch ist schon lange<br />

nichts mehr eingefallen, Eugene, und Sam fällt sowieso nur immer ein, daß ihm<br />

nichts einfällt.<br />

IONESCO Wahrscheinlich hast du schon eine Erklärung, die du uns aufzwingen<br />

möchtest?<br />

BRECHT Aber ihr müßt doch zugeben, daß es tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen<br />

uns gibt. Wir alle sind uns doch einig, daß die alten Formen des aristotelischen<br />

Realismus nicht mehr genügten. Sie bedeuteten nichts mehr. Und warum<br />

bedeuteten sie nichts mehr? Weil in einer kapitalistischen Gesellschaft die direkte<br />

Interaktion von Angesicht zu Angesicht nichts mehr repräsentiert. Es läßt sich an<br />

ihr nichts mehr zeigen. Fragt G.B.S., <strong>was</strong> er für eine Mühe hatte, die Verhaltensformen<br />

der guten Gesellschaft mit Bedeutung auszustatten.<br />

SHAW Ich seh’ das et<strong>was</strong> anders. Das realistische Drama des 19. Jahrhunderts beruhte<br />

auf einer Voraussetzung, die so unerschütterlich schien wie der Goldstandard<br />

des Pfund Sterling: das war die Identität von melodramatischer Theatralik, passioniertem<br />

Gefühl und der überwältigenden Bedeutung des privaten Glückes in<br />

Form von sentimentalen Beziehungen, deren Notwendigkeit auf dem Theater genauso<br />

feststand ‘wie ihre Irrelevanz für die Gesellschaft. Und da hat nun Ibsen gezeigt,<br />

wie <strong>man</strong> dieses Problem löst.<br />

IONESCO Wieso? Auch Ibsen bleibt doch im Privaten. Wir alle bleiben im Privaten.<br />

Pirandello zeigt per<strong>man</strong>ent Eifersuchtsdramen von Ehepaaren. Ich selbst habe von<br />

der Kahlen Sängerin über Die Stühle bis zu Jakob oder der Gehorsam Ehepaare<br />

und Familien gezeigt, und die Beziehung von Sams Figuren sind nichts anderes als<br />

die Schrumpfformen von in die Jahre gekommenen Intimbeziehungen.<br />

BRECHT Das ist ja der Punkt; das einzige, <strong>was</strong> ihr zeigt, ist, daß sie nichts bedeuten.<br />

PIRANDELLO Aber war das auch bei Ibsen schon so?<br />

SHAW In gewisser Weise ja. Ibsen schuf eine ganz neue Situation für das Publikum,<br />

indem er die Informationsverteilung umbaute. War bei den Intrigen des traditionellen<br />

Dramas das Publikum meistens in alles eingeweiht, wurde es im analytischen<br />

Drama von Ibsen zum Außenseiter. So wie das für die Beziehung zwischen<br />

Fremden in unserer Gesellschaft normal ist, versetzte Ibsen den Zuschauer in die<br />

Position eines Menschen, dem vom Anfang des Stückes an die wohlanständige<br />

Fassade einer bürgerlichen Familie präsentiert wurde. Im Verlaufe des Dramas<br />

brach dann ein Stück nach dem anderen aus der Fassade heraus, und der Zu-

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