24.11.2013 Aufrufe

Bildung - Alles, was man wissen muss

Bildung - Alles, was man wissen muss

Bildung - Alles, was man wissen muss

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

298 WISSEN<br />

dem Dachboden sein Porträt versteckt hat; auf diesem Bild zeigen sich nach und nach<br />

die Spuren des Lasters, während Dorian Gray selbst unverändert jung bleibt wie ein<br />

Kunstwerk. Als der Held schließlich entsetzt auf das Bild einsticht, findet <strong>man</strong> ihn<br />

entseelt, mit einem Messer in der Brust.<br />

Diesen Mord am Kunstwerk begehen die modernen Künstler auch. Sie sprengen<br />

die Werkheiligkeit. Statt eines Werks, das wie ein schwarzes Loch wirkt, in dem alle<br />

Fragen verschwinden, zeigt die moderne Kunst Prozesse. Sie proklamiert (verkündet)<br />

nicht mehr die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung. Statt dessen verfremdet sie diese<br />

durch ihre Bizarrerien, bis die Wahrnehmung selbst wahrnehmbar wird. Mit anderen<br />

Worten: Moderne Kunst ist fast immer Kunst über Kunst. Sie ist reflexiv gebrochen<br />

und gewinnt daraus ihre Paradoxien. Das heißt, sie thematisiert ihre eigenen Bedingungen.<br />

Schauen Sie auf diese Abbildung: Offensichtlich eine Pfeife. Aber mit einer<br />

rätselhaften Unterschrift: Ceci n’est pas une pipe. Was auf deutsch, frei übersetzt, ungefähr<br />

heißt: ›Das ist keine Pfeife‹.«<br />

Einige der Besucher lachten. »Was ist es denn?« murmelte eine Frau.<br />

»Ja«, nahm unser Cicerone die Frage auf, »<strong>was</strong> ist es, wenn es keine Pfeife ist? Es ist<br />

deutlich zu sehen. Sie sehen es alle. Na? Sehe ich nur ratlose Mienen? Kann mir nie<strong>man</strong>d<br />

sagen, <strong>was</strong> er sieht? Nun, lassen wir das erst einmal offen und schauen wir uns ein<br />

anderes Bild desselben Malers an. Es heißt Carte blanche und ist von Rene Magritte.<br />

Wir sehen eine Frau, die durch den Wald reitet. Aber mal wird ihre Gestalt von<br />

den Bäumen, mal von den Zwischenräumen zwischen den Bäumen verdeckt, während<br />

<strong>man</strong> sie durch die Bäume hindurch sehen kann. Und nun sehen Sie hier diese<br />

Tafel mit Morgensterns Gedicht Lattenzaun.<br />

Es war einmal ein Lattenzaun / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.<br />

Ein Architekt, der dieses sah, / stand eines Abends plötzlich da –<br />

und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus.<br />

Der Zaun indessen stand ganz dumm, / mit Latten ohne <strong>was</strong> herum.<br />

Wenn Sie den Text mit dem Bild von der Dame im Wald vergleichen, wirkt Magritte<br />

viel schockierender als Morgenstern. Warum? Weil unsere sinnliche Wahrnehmung<br />

für die Absicherung unseres Realitätsgefühls viel wichtiger ist: Wenn wir verbal<br />

getäuscht werden, ist das nicht so erschütternd, wie wenn wir unseren eigenen Augen<br />

nicht mehr trauen können. Weil die sinnliche Wahrnehmung so unmittelbar ist, war<br />

der Bruch mit der Malerei besonders krass, als die moderne Kunst den Pakt mit der<br />

Abbildlichkeit kündigte. Seitdem gibt es die Modernisten, die die moderne Kunst<br />

verstehen, und es gibt die Traditionalisten, die sie ablehnen und die traditionelle<br />

Kunst anbeten. Und schließlich gibt es die Idioten, die der modernen Kunst in der<br />

gleichen Haltung gegenübertreten, die sie bei der traditionellen gelernt haben. Sie<br />

gehen dann in eine Ausstellung und verharren in andächtigem Schweigen vor einem

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!