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Bildung - Alles, was man wissen muss

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DAS REFLEXIVE WISSEN 485<br />

Natur- und Geistes<strong>wissen</strong>schaften sich zu schließen beginnt, weil der Begriff der Reflexion<br />

und der Selbstbezüglichkeit, der bisher fast ausschließlich in den Geistes<strong>wissen</strong>schaften<br />

zu Hause war, auch zunehmend die Probleme der Natur<strong>wissen</strong>schaften<br />

bestimmt.<br />

Im letzten Kapitel haben wir den Physiker und Ro<strong>man</strong>cier C.P. Snow erwähnt. Er<br />

hatte in einer berühmten Rede in den 50er Jahren die Formel von den zwei Kulturen<br />

geprägt: damit meinte er die Kultur der literarisch-hu<strong>man</strong>istischen <strong>Bildung</strong> und<br />

die Kultur der technisch-<strong>wissen</strong>schaftlichen Berufe. Damals hatte Snow ihre Trennung<br />

beklagt. Wer die jetzige Entwicklung der Wissenschaften verfolgt, hat den Eindruck,<br />

daß sie einander näherrücken. Das Subjekt verliert sein Monopol auf Selbstbezüglichkeit,<br />

und <strong>man</strong> spricht zunehmend davon, daß sich auch Organismen oder Betriebe<br />

oder Nervensysteme oder Gesellschaften oder Ameisenhaufen selbst<br />

beobachten, selbst organisieren und selbst beschreiben. Es sieht also ganz danach aus,<br />

daß dies die Richtung ist, in die auch die <strong>Bildung</strong> sich entwickeln muß: Sie wird sich<br />

wahrscheinlich zur zweiten Kultur hin öffnen. Dazu muß auch sie sich selbst beobachten<br />

können.<br />

Zu den unverzichtbaren Voraussetzungen der <strong>Bildung</strong> gehört ein entwickeltes<br />

Verständnis für die gegenwärtige Gesellschaft. Das gewinnt <strong>man</strong> nur am Kontrast zur<br />

traditionellen Gesellschaft Europas vor der industriellen Revolution. Deshalb sollten<br />

die historischen Kenntnisse mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Ein<br />

Überblick über die französische oder englische Geschichte führt hier weiter, als das<br />

Studium der deutschen Geschichte. Am meisten lernt <strong>man</strong> über die heutige Welt,<br />

wenn <strong>man</strong> die englische Geschichte ab 1688 studiert.<br />

<strong>Bildung</strong> wurde immer als Form aufgefaßt, in der <strong>man</strong> sich selbst versteht. Deshalb<br />

ist es wohl unverzichtbar, daß <strong>man</strong> eine ungefähre Vorstellung von den Kategorien<br />

hat, in denen sich der Mensch selbst beschreibt und sein Verhalten begründet: Identität,<br />

Rolle, Psyche, Emotion, Leidenschaft, Gefühl, Bewußtsein, unbewußtes Motiv,<br />

Verdrängung, Kompensation, Norm, Ideal, Subjekt, Pathologie, Neurotik, Individualität,<br />

Originalität – alles das sind Leitbegriffe, ohne deren Verständnis <strong>man</strong> keinen Zugang<br />

zu entwickelten Formen der Selbstreflexion gewinnt.<br />

Individualität entfaltet sich nur in der Zeit als Lebensro<strong>man</strong>. Zum Selbstverständnis<br />

gehört daher eine Ahnung von den zugehörigen Stories, Verlaufstypen und Ablaufprogrammen,<br />

die <strong>man</strong> in der Literatur und im Film oder auch auf der Bühne besichtigen<br />

kann: typische Formen der Verwandlung, der Metamorphose, des Initiationsritus,<br />

der Therapie, der Krise, der Erschütterung, der Traumatisierung – diese<br />

Formen sollte <strong>man</strong> wiedererkennen, wenn <strong>man</strong> ihnen begegnet, sonst ist <strong>man</strong> ihnen<br />

ausgeliefert.<br />

Die Begegnung des einzelnen mit anderen und mit der Gesellschaft vollzieht sich

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