Hans Chanan Flörsheim - Hassia Judaica
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Menachem kam spät abends aus Brüssel zurück und legte sich einfach wegen<br />
Platzmangel auf einem Tisch in der Gastwirtschaft schlafen. Wir mussten<br />
sowieso am nächsten Morgen schon um 5 Uhr aufstehen und er konnte<br />
dann ruhig weiterschlafen. Wir gaben ihm noch ein Briefchen für Lore 25 mit<br />
und legten uns ins Bett. Ich schlief kaum und war es, der die anderen um<br />
4:30 Uhr weckte. Zeit hatten wir genug, und so packte jeder seine Habseligkeiten,<br />
was wegen der beschränkten Räumlichkeit eine ganze Kunst war.<br />
Danach nahmen wir unten im Schankraum mit den bekannten gut gemeinten<br />
Wünschen und Hoffnungen von Menachem Abschied. Erst in dem Augenblick<br />
fühlte ich, dass jetzt endgültig die Bande mit Holland gelöst waren,<br />
weil eben Menachem, der uns hierher gebracht hatte, uns jetzt verlassen<br />
würde. Aber viel Zeit um traurigen Gefühlen nachzuhängen hatte ich nicht.<br />
In kleinen Gruppen gingen wir zum Bahnhof und stiegen, nachdem Willy<br />
die Fahrkarten nach Tournai gekauft hatte, in den Zug Antwerpen - Brüssel.<br />
Draußen war es noch völlig finster, und jeder duselte etwas vor sich hin,<br />
bis der Zug einmal richtig in Fahrt war und man langsam in der vorüberziehenden<br />
Landschaft etwas unterscheiden konnte. Gesprochen wurde nicht<br />
viel, um nicht die Aufmerksamkeit auf uns Ausländer zu lenken. In Brüssel<br />
mussten wir in den Express nach Lille umsteigen, und deshalb blieben wir<br />
auf dem Bahnhof. Ich war froh, dass ich Brüssel bereits kannte, denn so<br />
hatte ich nicht das Gefühl, diese Stadt versäumt zu haben.<br />
Der Zug war übervoll, und wir hatten die Aussicht, bis Tournai, unserem<br />
Ziel, zwischen den Mitreisenden gequetscht stehen zu müssen. Man<br />
konnte zwar aus dem Fenster sehen, aber das war auch der einzige Trost.<br />
Und in dieser Verfassung blieben wir bis Tournai, außer Rie, die als Frau<br />
einen Sitzplatz gefunden hatte. Ein leichtes Gefühl der Spannung meldete<br />
sich bei mir, denn wir näherten uns wieder einer anderen Grenze. Unsere<br />
Befürchtungen vor etwaiger Kontrolle im Zug hatten sich nicht bewahrheitet.<br />
Willy hatte zwar irgendeinen Wisch, einen sogenannten Marschbefehl<br />
von einer Baufirma, aber viel Wert war der jetzt noch nicht. Vor dem Bahnhof<br />
in Tournai mussten wir auf die Straßenbahn warten, und um die Wartezeit<br />
zu kürzen, gingen wir in ein flämisches Café und aßen dort unsere Butterbrote<br />
mit Wurst und tranken Bier dazu.<br />
Mit der Straßenbahn fuhren wir an den Zerstörungen von 1914 vorbei<br />
hinaus aufs Land und nach einer ¾-Stunde stiegen wir in einem kleinen<br />
Dorf aus. Wieder gingen wir manchmal auf der Straße, dann wieder über<br />
25<br />
Lore Durlacher hatte den Bereich Holland unter sich. Sie lebte nach dem Krieg bis zu ihrem<br />
Tod im Jahre 1991 in Israel. (Ch.Fl.)<br />
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