Autor: Tilmann P - Schorsch Kamerun
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HEINER GOEBBELS/HEINER MÜLLER<br />
13. Mai 1986<br />
Heiner Goebbels:<br />
http://www.mediaculture-online.de<br />
Ich möchte mich bedanken für die hohe Auszeichnung, ich bin darüber sehr froh und auch<br />
etwas stolz, sie mit Heiner Müller teilen zu können.<br />
Nach der Jurysitzung vor einigen Wochen, bei der uns dieser Preis zuerkannt wurde, gab<br />
es ein informelles Essen. Mein Redakteur, Christoph Buggert, der Vorsitzende der Jury,<br />
Friedrich Wilhelm Hymmen und ich glaube: auch einige Kritiker gaben mir dabei den Rat,<br />
ich solle mit meiner Rede doch ‘etwas Programmatisches zur Gattung sagen’. Gemeint<br />
war damit selbstverständlich das Hörspiel. Zur Zeit findet aber um uns herum etwas<br />
Unsichtbares, Unfaßbares statt, das uns – weil ihm jede greifbare Konkretion fehlt –<br />
zwingt, gerade dem Selbstverständlichen zu mißtrauen; besonders die vertrauten Dinge in<br />
unserer Nähe, die Lebensmittel, die Bilder, die Worte in einem neuen Kontext zu sehen:<br />
idyllische Aufnahmen von friedlich grasenden Kühen sind plötzlich kleine Kriegsfilme;<br />
stehen Schuhe vor der Haustür, denken wir nicht mehr an den Nikolaus.<br />
Als ich also vor wenigen Tagen meine Notiz ‘etwas Programmatisches zur Gattung sagen’<br />
wiederlas, hatte sich der Assoziationshintergrund, vor dem mir diese Worte<br />
entgegentraten, längst verschoben, und bei Gattung fiel mir nicht mehr das Hörspiel,<br />
sondern gleich die Menschheit ein, auch wenn ansonsten so pathetische Formulierungen<br />
nicht zu meinem Vokabular gehören.<br />
Der Mythos berichtete davon, wie Prometheus den Menschen den Blitz brachte. Sein<br />
Beratervertrag bei einer großen Aktiengesellschaft im Energiesektor hat ihn aber<br />
offensichtlich davon abgehalten, uns zu zeigen, wie man den Blitz vernünftig nutzt<br />
beziehungsweise sich gegen eine unverantwortliche Nutzung erfolgreich zur Wehr setzt.<br />
Tschernobyl ist leider kein Mythos mehr, sondern wirklich eine Katastrophe. Sie hat mit<br />
der Dramaturgie der antiken Tragödie noch gemeinsam, daß sie fest eingeplant ist, als<br />
dritter, aber nicht letzter Akt in dem ökonomischen Theater. Nicht besonders vorbereitet<br />
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