Autor: Tilmann P - Schorsch Kamerun
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werden, als sei alles fraglos geklärt, kein Zweifel, kein Widerspruch mehr möglich. Die<br />
Wahrheit, dingfest gemacht im letzten Satz, schien jetzt leicht verfügbar, ablösbar und<br />
fungibel zu sein. Ich versuchte, mir über die Natur meines Unbehagens klarzuwerden. Es<br />
war nicht in der Sache begründet, es war etwas anderes, eine Erinnerung an den Vorgang<br />
des Schreibens, der ohne die Sicherheit des letzten Satzes war. Während ich schrieb,<br />
habe ich diesen letzten Satz nicht gewußt, oft habe ich nicht weiter gewußt als bis zum<br />
nächsten Satz, der gerade entstand. Es war ein Unternehmen mit ungewissem Ausgang.<br />
Verschiedene Lösungen wurden sichtbar und lösten sich wieder auf. Die Extreme hielten<br />
sich in schwankender Balance. Sie mußten formuliert werden, man mußte sich auf sie<br />
einlassen, und jedes forderte alle Wirklichkeit für sich. Als ich den ersten Monolog des<br />
Mannes geschrieben hatte, schien es zunächst, als würde sich keine Gegenstimme mehr<br />
melden, da war Totenstille, und nur mühsam und schwierig begann der Gegenpart.<br />
Es mag <strong>Autor</strong>en geben, denen der letzte Satz keine Schwierigkeit macht. Sie haben ihn<br />
schon in der Tasche, bevor sie zu schreiben beginnen. Sie sind beneidenswert, sie<br />
werden nicht irritiert. Allerdings glaube ich, daß sie während des Schreibens keine<br />
Erfahrungen machen, daß ihnen nichts passiert, weil sie nur fleißig und geschickt ein<br />
Schema ausfüllen. Ich glaube ihnen ihre letzten Sätze nicht. Sie sind eilfertige Lieferanten.<br />
In einer verworrenen, schwer durchschaubaren Welt besteht ein großer Bedarf an letzten<br />
Sätzen, summarischen Weisheiten, strahlenden Eindeutigkeiten – die Psychologie nennt<br />
diesen Drang zur Vereinfachung die Prägnanztendenz. Aber wer dieser Prägnanztendenz<br />
mit prägnanten Schlußworten entgegenkommt, hat kaum ein prägnantes Bild unserer tief<br />
widersprüchlichen Wirklichkeit geschaffen, sondern ein angenehm zurechtgemachtes –<br />
und hier beginnt etwas, das gefährlicher ist als Unsicherheit und Zweifel, nämlich<br />
Ideologie. Es gibt übrigens keine Ideologie, die nicht mit dem Anspruch und Anschein<br />
auftritt, moralisch wertvoll zu sein.<br />
Kann einer überhaupt noch letzte Sätze schreiben, wenn sich die Welt unablässig<br />
verwandelt und er sich eingestehen muß, daß er wenig weiß und daß er mit der Auflösung<br />
der ideologischen Sätze beginnen muß, wenn er überhaupt noch etwas Reales erfahren<br />
will? Die Frage macht die Möglichkeit von Kunst fraglich, denn obwohl es großartige<br />
künstlerische Fragmente gibt, und obwohl sie bezeichnenderweise auf uns oft stärker<br />
wirken als abgeschlossene Werke, ist es doch immer noch ein Anspruch des Künstlers,<br />
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