Autor: Tilmann P - Schorsch Kamerun
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Kriegerdenkmal und Garküchentür nehmen immer tiefere Blaustufungen an, Bärbel<br />
Wachholz’ Kolibristimme sticht in die Gehörgänge mit ‘Treu sein, treu sein, treu sein muß<br />
der Mann ...’ Wir sind in den fünfziger Jahren, in einer Kleinstadt in Sachsen, im Osten<br />
also. Es geht um die Tempi. Mit ganzem Ohr noch konnte ich das Mittelwellenradio hören,<br />
weil der Wechsel der Blautöne am Kriegerdenkmal und Siewer Ottos Gang zur Garküche<br />
mein Ohr nicht ablenkten. Bild und Ton zweier Wirklichkeiten wurde eine, eine die dem<br />
Faktischen entkommen konnte. Erlebnis als Gemeinschaftsproduktion von Netzhaut und<br />
Trommelfell.<br />
In den sechziger Jahren wurde aus jenem, wie ich es nennen will, unschuldigen Hören,<br />
ein sündiges, wurde: Hören demonstrieren. Die die Straße wagten, waren die<br />
Abgebrühtesten, die ins Weiße eines Polizistenauges blicken konnten, mit einem<br />
Kofferradio im Arm gingen sie ihren Dualismus bekennen: Seht, zwar weilt mein nach<br />
Bluejeans verbrennender Leib hier, meine Seele aber ist hinübergegangen, sich laben bei<br />
John, Paul, George und Ringo. ‘I can get no satisfaction’ – eine Parole der Zersetzung. In<br />
‘On the road again’ – die codierte Aufforderung zur Republikflucht.<br />
Wegen einer Theaterinszenierung beschäftigte ich mich vor ein paar Jahren mit dem<br />
‘Ozeanflug’, ein Hörspiel, das bekanntermaßen Brechts Radiotheorie demonstriert. Selbst<br />
als die Strukturen des Mediums Rundfunk noch offen waren, konnte Brecht, wie Sie<br />
wissen, dessen Demokratisierung durch den ‘Ozeanflug’ nie ausprobieren. Selbst die<br />
Uraufführung in Baden-Baden war lediglich eine Versuchsanordnung mit einem<br />
simulierten Hörer, vor einem überflüssigen Radio in einem fingierten Zuhause; heute<br />
würde ich meinen, eine Metapher für alles revolutionäre In-die-Tat-umsetzen-wollen<br />
unseres Jahrhunderts. Dennoch das Gefühl der Unzulänglichkeit in mir hält sich: mit<br />
meinen Arbeiten hinter jenen Maßgaben zurückzubleiben. Auch das O-Tonhörspiel<br />
organisiert nicht, wie Paul Wühr vor 19 Jahren an diesem Platz hoffte, den Hörer als<br />
Lieferanten im Brechtschen Sinne. Nein, der Rundfunk wird nicht demokratischer, indem<br />
er sporadische Direktschaltungen zu seinen Hörern aufbaut oder die ihre Stimme in<br />
Hörspielen wiedererkennen.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wage zu behaupten, daß wir dank der<br />
Golfkriegsberichterstattung, die uns alle zu quasi Kriegsblinden und -gehörlosen gemacht<br />
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