Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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am fernen Ende der Halle, reden nicht. Als sie ihn bemerken,<br />
springen sie auf und gruppieren sich in Reih und Glied. Dann<br />
salutieren sie. Er schreitet an ihnen vorüber, prüft ihre jungen,<br />
unschuldigen Gesichter. <strong>Das</strong> seine ist von Entbehrungen und<br />
strenger Askese gezeichnet – Merkmale, die sich auch bald in<br />
ihren finden lassen. Man wird sie nicht vor die Wahl stellen.<br />
S TA U B I G E B Ü C H E R<br />
Die Hellvetiker hatten eine Bestimmung. Die Bestimmung, zu<br />
schützen und zu leiten. <strong>Das</strong> zu vergessen, wäre eine größere<br />
Sünde als die, die sie für ihr Überleben schon begangen hatten.<br />
Um ihre Doktrin an die Nachwelt weiterzugeben und das alte<br />
Wissen zu sichern – und um ihr Gewissen zu erleichtern –,<br />
führten sie von jenen schicksalshaften Tagen im Jahre 2073 an<br />
ein Festungstagebuch. Ausführlich schilderte es die überstürzte<br />
Flucht in die Bunker und die Bedenken, all die Menschen<br />
dort draußen ihrem Schicksal zu überlassen. Niemals sollte<br />
vergessen werden, was die Hellvetiker dazu machte, was sie<br />
heute sind.<br />
Z U F L U C H T<br />
Protokolle. Kistenweise stapeln sie sich in den leeren Hangars.<br />
Dazwischen Testamente und Liebesbriefe, die nie zugestellt<br />
wurden. Die Herzen, die sie erfreuen sollten, sind längst verstummt.<br />
Durchstöbert man diese uralten, staubigen Archive,<br />
erfährt man von den ersten Versuchen, die aufgegebene Alpenfestung<br />
der Schweiz wieder einsatzbereit zu machen. Es<br />
war im Jahre 2072, als die Eidgenossen erstmals ein Versagen<br />
des Asteroidenschilds in Betracht zogen. Die ausgedehnten<br />
Bunkeranlagen schienen sich hervorragend als Lagerräume zu<br />
eignen, aber sie konnten auch einer kleinen Gruppe Menschen<br />
das Überleben sichern – Menschen, die nach einem Zusammenbruch<br />
der öffentlichen Ordnung diese wieder herzustellen<br />
vermochten. Ein Kontingent Berufssoldaten, etwa 2000 Männer<br />
und Frauen stark, sollte einer kleineren Gruppe Zivilisten<br />
in der Zeit nach der Katastrophe den Rücken decken, darunter<br />
Handwerker, Naturwissenschaftler, Soziologen, Psychologen<br />
und andere Wissenszweige, aber auch führende Vertreter der<br />
Regierung.<br />
Über ein Jahr lang schafften Armeefahrzeuge Nahrungs<strong>mit</strong>tel,<br />
Rechneranlagen, kilometerlange Kabel und Installationen<br />
in die Alpenfestung. Erst in der letzten Phase räumte<br />
man Museen und Bibliotheken und verbrachte das kulturelle<br />
Erbe der Schweiz in die dunklen Korridore der Bunker. Und<br />
den Schweizern dämmerte, wie weit der Exodus ging – und<br />
dass man sie in ihrer schwersten Stunde allein zurücklassen<br />
würde. Protokolle aus den Kantonen schildern tumultartige<br />
Demonstrationen, lange Listen <strong>mit</strong> Anträgen zur Aufnahme in<br />
die Alpenfestung liegen unbearbeitet im Hauptarchiv für Geschichte.<br />
Unglaubliche Szenen voller Tragik und Wahn müssen<br />
sich damals vor den Bunkertoren abgespielt haben; der Nachwelt<br />
überliefert wurden nur sachliche Berichte, gepresst in ein<br />
bürokratisches Stützkorsett aus kühlen Klauseln und Zahlen.<br />
I S O L AT I O N<br />
Als sich die Portale schließlich zwischen den auserwählten Vertretern<br />
der Schweiz und ihrem Volk schlossen, zerbrach etwas<br />
auf beiderlei <strong>Seiten</strong>. Die Zurückgelassenen fühlten sich betrogen<br />
und wetterten von ihrer eigenen Angst getrieben gegen die<br />
vermeintlichen Verräter; die Bunkerbesatzung musste sich in<br />
ihre Hilflosigkeit ergeben. Dort draußen waren Verwandte und<br />
Bekannte, viele überließen Ehepartner und Kinder einem ungewissen<br />
Schicksal. Die Isolation hatte gerade erst begonnen,<br />
da sehnte man schon ihr Ende herbei.<br />
Doch aus der Katastrophe wurde die Apokalypse: Der<br />
Sichelschlag durchtrennte die Alpen wie <strong>mit</strong> einem wuchtigen,<br />
göttlichen Axthieb – das Felsmassiv brach auf, gigantische<br />
Steinmassen splitterten von der Bruchstelle, stürzten unter infernalischem<br />
Getöse in die Tiefe und begruben aufsteigendes<br />
Magma unter Millionen Tonnen Gestein, ein brüchiges Siegel<br />
auf der Büchse der Pandora. Die Alpenfestung der Schweizer<br />
war tödlich verwundet. Die großen Eingangsportale waren<br />
eingestürzt oder von Geröll verschüttet. Tunnel, die gestern<br />
noch in Hangars und Baracken geführt hatten, endeten jetzt in<br />
schwindelerregender Höhe und eröffneten den Blick auf neu<br />
entstandene Täler. Tiefschwarze, toxische Rauchsäulen kräuselten<br />
sich in den Himmel, sengende Hitze wallte herauf. Der<br />
Berg war zum Gefängnis geworden.<br />
Ganze Sektionen waren vom Kern abgeschnitten, das<br />
Schicksal der dort untergebrachten Schweizer unbekannt. Man<br />
wollte die Kameraden nicht aufgeben. Nicht, wie man sich von<br />
seinen Angehörigen abgewendet hatte. Und so ersann man einen<br />
absurden Rettungsplan: Eine Brücke sollte erbaut werden,<br />
über den Sichelschlag, über die Hölle selbst.<br />
Den Männern und Frauen, die Tag um Tag schufteten, nur<br />
durch ihre dünnen Asbestanzüge vor der infernalischen Hitze<br />
der Magmablase tief unter ihnen geschützt, gab man schon<br />
bald den Namen Hellvetiker, denn sie gingen durch die Hölle.<br />
Die Arbeit sollte Jahre dauern. Der Erfolg war von Beginn an<br />
ungewiss. Nur wenn die Eingeschlossenen Zugang zu den Lagern<br />
hatten, war ihnen noch zu helfen.<br />
Die erste der späteren sechs großen Brücken wurde im<br />
Jahr 2076 fertiggestellt. Ein Jahr zuvor gelang es erstmals, den<br />
Sichelschlag zu überqueren. Doch die Erwartungen wurden<br />
enttäuscht. Zwei Sektionen waren eingestürzt, in ihnen hatte<br />
man das Oberkommando und Regierungsvertreter vermutet.<br />
Da war nicht einmal mehr Asche. Sollten all das Blut und all<br />
der Schweiß letzten Endes umsonst geflossen sein? Der Militärapparat<br />
geriet ins Wanken. In all den Jahren hatte er sich an<br />
dem einen Ziel festklammern können, jetzt hatte es ihm Herz<br />
und Hirn gleichermaßen aus dem Leib gerissen. Leer und ausgebrannt<br />
starrte er in eine düstere Zukunft.<br />
Erst einem mehrfach ausgezeichneten Hellvetiker namens<br />
Leonhard Gboy gelang es, das Ruder herumzureißen. Ein<br />
Rationierungsplan und mehrere aus dem Boden gestampfte<br />
Führungs-Instanzen fingen die Überlebenden in einem Netz<br />
aus Bürokratie und neuen Zielen auf. Jeder der Schweizer Territorialregionen<br />
wurde ein Korpskommandant zugeordnet, der<br />
selbstverantwortlich für die Sicherung des Bereichs Sorge zu<br />
tragen hatte. Ihm unterstanden kleine Einheiten von wenigen<br />
Dutzend Soldaten, die von einer unabhängigen Sektions-Kommission<br />
einer ständigen Qualitätsprüfung unterzogen werden<br />
sollten. Die Befehlsketten waren wieder hergestellt, man<br />
empfand sich wieder als Teil eines rasselnden Uhrwerks. Eines<br />
blieb noch. Man musste einen Schlussstrich unter die Vergangenheit<br />
ziehen, wollte man der Zukunft begegnen. Mit einer<br />
überwältigenden Mehrheit entschlossen die Eidgenossen, dass<br />
sie fortan <strong>mit</strong> Stolz den Namen Hellvetiker tragen würden.<br />
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