Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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76<br />
schmutzigen Stück Land vor. Skeptiker rechneten <strong>mit</strong> heftigem<br />
Widerstand aus den Reihen des alten Christentums, zumal die<br />
neognostische Auslegung des Wiedertäufer-Glaubens sich<br />
stark vom Katholizismus abgrenzte. Doch nichts dergleichen<br />
trat ein. Abgesehen von einigen irren, schnell überwundenen<br />
Wanderpriestern offenbarte sich Purgare als religiöses Entwicklungsland.<br />
Die Gemeinschaft der Wiedertäufer, wie auch<br />
ihr durchdachtes Glaubenswerk beeindruckten die Einheimischen.<br />
Nie sollte es den Wiedertäufern wieder so leicht fallen,<br />
die Menschen zu bekehren.<br />
Heute ist der neognostische Glauben der Volksglauben<br />
Purgares. Es gibt keine Familie, die sich dem Einfluss des<br />
Kults vollends entziehen könnte. Doch auch hier lassen sich<br />
die typischen zwei Wiedertäufer-Strömungen ausmachen:<br />
Die Opportunisten, die dem Kult als Söldner dienen und die<br />
Macht nutzen, um ihre eigenen Ziele voranzutreiben, als auch<br />
die wahrhaft Gläubigen, denen die Ziele der Wiedertäufer<br />
alles bedeuten. Sie streiten für das Himmelreich auf Erden,<br />
um schließlich eins zu werden <strong>mit</strong> dem göttlichen Atem. Kein<br />
Problem – der Neognostik nach erfahren sie alle zur rechten<br />
Zeit die Erleuchtung, solange sie nur auf der richtigen Seite<br />
stehen.<br />
F A M I L I E N B A N D E<br />
Die Familie bedeutet einem Purger alles – ein Relikt aus den<br />
Zeiten der Flucht über die Apenninen. Damals war man<br />
ein Fremder in seiner Heimat, nur die Großeltern, Eltern,<br />
Geschwister, Tanten und Onkel verankerten einen in der<br />
Vergangenheit, gaben Identität, so dass man sich als jemand<br />
sehen konnte, der mehr war als ein Flüchtling. Wem sonst hätte<br />
man vertrauen sollen in einem Rudel verstoßener Hunde, einer<br />
hungriger als der andere?<br />
Über die Jahrhunderte gewann die Familie weiter an Bedeutung,<br />
wurde zum Beschützer und kulturellem Zentrum.<br />
Die Geschichtsbücher waren leer und warteten darauf, <strong>mit</strong><br />
neuen Daten gefüllt zu werden. Die großen Familien ließen<br />
sich nicht lange bitten und verfassten ihre eigene Version der<br />
Geschehnisse, luden ihren Mitgliedern eine Tradition auf und<br />
gaben einen Verhaltenskodex vor. Der Abstammung wurde ein<br />
hoher Stellenwert eingeräumt; die Reihen der Familie rein zu<br />
halten entwickelte sich zu einer Obsession. Über Heiraten und<br />
Adoptionen gelangte frisches Blut in die verkrusteten Strukturen,<br />
ließ die Gemeinschaft wachsen und stärkte zugleich das<br />
Band zu anderen Sippen – alles gesteuert durch die gestrengen<br />
Patriarchen der Sippen. Wer sich dem fast wissenschaftlich anmutenden<br />
Vermählungszirkus nicht unterwerfen wollte, dem<br />
drohte die Internierung im Stammsitz der Familie – Schande<br />
hätte es über die Sippe gebracht, würde eines ihrer Mitglieder<br />
ohne familiäres Einverständnis in der Umgegend herumstreunen.<br />
Der Einzelne ist nichts, gilt als anfällig für die Einflüsterungen<br />
des Demiurgen – des Gegenspielers Gottes in der<br />
Mythologie der Wiedertäufer. Eine Familie ist das Mindeste,<br />
was man als Purger vorweisen muss. Verstoßene finden nirgends<br />
Anschluss, sind Zielscheibe offener Aggressionen. Purger<br />
<strong>mit</strong> einem lückenhaften Stammbaum oder solche, die sich<br />
dem Einfluss ihrer Sippe zu entziehen wussten, gelten auch<br />
heute noch als Untermenschen. Wer schon nicht Frieden <strong>mit</strong><br />
der eigenen Familie halten kann, wie soll er dann <strong>mit</strong> jemand<br />
anderes vertrauensvoll Geschäfte abwickeln können?<br />
S Ü N D E N P F U H L<br />
Es ist ein unkalkulierbares Risiko für eine Schar Apokalyptiker,<br />
weit nach Purgare vorzustoßen. Von Schlägereien bis hin zum<br />
Brennen am Kreuze ist alles zu erwarten und weitaus wahrscheinlicher<br />
als freundliche Gesichter. Und dennoch können<br />
es die Zugvögel nicht lassen. Zu verlockend sind all die unbefriedigten<br />
Männer und Frauen und all die Bauern, die grimmig<br />
und ruhig wie eine hungrige Schlange in ihren Löchern jungem<br />
Fleisch auflauern. Wenn sich jemand nach Gesellschaft und<br />
Glücksspiel sehnt, dann müssen es die Purger sein.<br />
Die Antwort auf ihr sündiges Begehren ist ein kleines<br />
Dorf in den südlichen Alpen unter der Schirmherrschaft der<br />
Hellvetiker. Hier kann sich der Reisende der Sinneslust hingeben,<br />
saufen und burnen und zocken, bis der Demiurg ihm<br />
persönlich die Hand schüttelt. Die Etablissements sind äußerst<br />
diskret, nur kleine Gruppen Fremder treffen jeweils aufeinander<br />
– genau das richtige für einen ausgehungerten Purger.<br />
Ein Netz aus alten Schächten aus voreshatologischer Zeit<br />
garantiert einen unbemerkten Abgang. <strong>Das</strong> Hineingelangen in<br />
das von den Apokalyptikern verheißungsvoll Sodom genannte<br />
Dorf ist weit weniger problematisch, liegt es doch vor einem<br />
der Passiertunnel der Hellvetiker. Fernreisende haben keine<br />
andere Wahl, als sich über die ausgetretenen Lehmstraßen<br />
zwischen den ineinandergeschobenen und zu grotesken Bergen<br />
aufgetürmten, uralten Campingwagen durchzuschieben,<br />
wollen sie in die kühle Tiefe des Berges hinabsteigen. In den<br />
engen Gassen pulsiert das Leben – Leben, das in den Augen<br />
eines traditionsbewussten Purgers wenig liebens- und lebenswert<br />
ist. Leichte Mädchen und Stricher drängen sich an die<br />
Reisenden, machen obszöne Andeutungen; apokalyptische<br />
Karten-Propheten versprechen einen Blick in die Zukunft.<br />
Oder die Vergangenheit. Oder was auch immer. Hütchenspieler,<br />
Zocker, Taschendiebe – selbst wenn man nicht nach ihnen<br />
suchen sollte, sie werden einen finden.<br />
Wenn der erste Sonnenstrahl die Alpen erglühen lässt und<br />
die Steinböcke aus ihrer nächtlichen Starre erwachen, fällt<br />
Sodom in einen trüben Schlummer, ist nur mehr eine tote<br />
Schrotthalde. Tau sammelt sich in den Fahrtrillen und verwandelt<br />
die Straße in einen Morast. Nur die grimmigen Gestalten<br />
der Hellvetiker, die entlang der Dorfgrenze patrouillieren, stören<br />
dieses Bild des Verlassenseins. Bis zum Sonnenuntergang.<br />
G R E N Z E N<br />
Purger sind sehr territorial, nicht nur als Volk, das sich zwischen<br />
den Fronten eingraben musste, sondern auch als Familie<br />
und Individuum. Ein einmal abgesteckter Claim gilt als ein<br />
unantastbarer Besitz der Familie, den es <strong>mit</strong> allen Mitteln zu<br />
verteidigen gilt. Blutige Fehden bei Grenzstreitigkeiten haben<br />
in der Vergangenheit ganze Stammbäume gekappt. Auge um<br />
Auge. In dieser Hinsicht sind sie ihrem balkhanischen Erzfeind<br />
sehr ähnlich: Die Familien zerfleischen sich gegenseitig,<br />
Dispute überschatten das tägliche Leben und verschließen<br />
ihnen die enorme kollektive Stärke, die eine Einheit zweifellos<br />
erzeugen würde.<br />
Bemühungen, die Purger zu einen, gab es zuhauf. Gerade die Wiedertäufer<br />
in Borca bemühen sich, den ewigen Zwistigkeiten <strong>mit</strong> neuen<br />
Gesetzen den Riegel vorzuschieben. Doch die Erfolge sind begrenzt<br />
und nichtig, sobald der Kult den Streitenden den Rücken zuwendet.