Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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L E B E N A L S R E K R U T<br />
Die ersten Semester werden die jungen Rekruten tagsüber<br />
im Appendix die niedersten Arbeiten zu verrichten haben,<br />
an ihrer Seite ein erfahrener Pfleger. Sie werden das Leid in<br />
all seinen Facetten hautnah erfahren – Blut, Eiter und Fäule<br />
begleiten sie auf all ihren Wegen, die Schreie der Sterbenden<br />
hallen hohl in ihren Schädeln wider. Die schweren Gasmasken<br />
und gasdichten Anzüge zehren an ihrer ohnehin angeschlagenen<br />
Verfassung; die beißenden Desinfektions<strong>mit</strong>tel bei<br />
der verordneten allabendlichen Säuberung reizen Augen und<br />
Haut. Des Nachts sammeln sich die erschöpften Rekruten<br />
zum Seminar, wo der unbarmherzige Drill auf einer anderen<br />
Ebene fortgeführt wird. Wer es nicht vollbringt, die Schriftsprache<br />
nach zwei Semestern ohne Fehl zu beherrschen, hat<br />
versagt, die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt und wird<br />
in Unehren entlassen – „Dummheit ist eine Krankheit, gegen<br />
die selbst wir kein Mittel haben“, erinnern die Ausbilder ihre<br />
fieberhaft <strong>mit</strong>schreibenden Schüler immer wieder aufs Neue.<br />
Versager sind den Spitaliern ein Gräuel, sie belasten die Gruppe<br />
und nehmen fähigeren Aspiranten den Platz. Der Druck<br />
ist hoch, rotgeränderte Augen zeugen von langen Nächten<br />
des Lernens, Krankheiten zeichnen die ausgelaugten Körper.<br />
Viele halten nicht stand und brechen zusammen. Oft wird<br />
diese Schwäche als „A-praxie“ gedeutet, die pflichtvergessene<br />
Untätigkeit – eine schwere Beschuldigung, die als Strafe nur die<br />
Verbannung kennt.<br />
Nur ein kleiner, harter Kern schafft es nach vier Semestern<br />
zu den Prüfungen.<br />
P F L E G E R<br />
Nach mehrtägigen Prüfungen, die vor allem die Vertrautheit<br />
<strong>mit</strong> der Schriftsprache sowie Grundlagen der Diagnostik und<br />
der Hygiene sowie das Säubern von Wunden und Anlegen<br />
von Verbänden kontrollieren, dürfen sich die erfolgreichen<br />
Rekruten Pfleger nennen. Nur wenige scheitern nach den vier<br />
harten Semestern. Wer es bis hierher geschafft hat, musste<br />
seine Entschlossenheit und sein Durchhaltevermögen bereits<br />
vielfach unter Beweis stellen. Erst jetzt ist der ehemalige Rekrut<br />
ein Spitalier.<br />
Die Arbeit eines Pflegers unterscheidet sich nur geringfügig<br />
von der eines Rekruten, hinzu kommen erstmals verwaltungstechnische<br />
Aufgaben im Appendix. Die Pfleger sind es auch,<br />
die <strong>mit</strong> den Hilfesuchenden die Aufenthalts- und Behandlungskosten<br />
gemäß der Richtlinien aushandeln. Die Waren<br />
oder Wechsel werden im Anschluss daran von Rekruten in die<br />
bewachten Lagerhäuser verbracht.<br />
Je nach Auslastung der Appendix-Zone betreut ein Pfleger<br />
<strong>mit</strong> einem kleinen Team Rekruten 60-100 Patienten, für deren<br />
Versorgung und einfachste medizinische Behandlung er die<br />
Verantwortung trägt. Der tägliche Gang <strong>mit</strong> den Karren zum<br />
Nahrungsverteiler gehört genauso zum Alltag wie das Säubern<br />
und Desinfizieren der Lager, das Nähen von Wunden und die<br />
Verordnung von Medikamenten.<br />
E N K L AV E N - Ä R Z T E<br />
<strong>Das</strong> Spital verschlingt enorme Mengen an Nahrung und Energie<br />
allein für die Aufrechterhaltung des Heil-Betriebs im Appendix.<br />
Die von den Siechen eingeforderten Honorare decken<br />
die Kosten zwar, erwirtschaften aber keinen Überschuss, der<br />
für Expeditionen nach Pollen und Franka erforderlich wäre.<br />
Sicherlich würde das justitianische Protektorat gerne – nicht<br />
ganz uneigennützig – die Versorgung des Spitals übernehmen,<br />
aber bislang weigerten sich die Ärzte beharrlich, sich den Richtern<br />
vollends auszuliefern.<br />
Den so genannten Enklaven-Ärzten zum Dank ist dies auch<br />
nicht nötig: <strong>Das</strong> Spital vermietet einzelne Ärzte an fremde<br />
Dörfer und Städte und fordert im Gegenzug Nahrung, Öl,<br />
Handwerker und Söldner. Enklaven-Dienst wird im allgemeinen<br />
als Strafe erachtet. Allein die Androhung, unter all<br />
den ungebildeten, vulgären Wilden zu arbeiten, ist für viele<br />
Spitalier Grund genug, ihre Leistungen zu steigern und skrupellos<br />
eventuelle Konkurrenten auszustechen. Nachzügler im<br />
Studium oder Ärzte <strong>mit</strong> zweifelhaften Ansichten finden sich<br />
schnell in einem entfernten Dorf wieder, fernab würdiger<br />
Gesellschaft.<br />
F A M U L A N T E N<br />
Nach weiteren vier praktischen Semestern erlangen Pfleger<br />
das Recht, <strong>mit</strong> dem Studium der Medizin zu beginnen. Dazu<br />
wechseln sie in den Corpus über, wo sie neue Quartiere zugewiesen<br />
bekommen. In den unterirdischen Kavernen und<br />
bunkerartigen Laboren erfahren die Famulanten erstmals das<br />
wahre Ausmaß der Macht des Spitals und erahnen die enormen<br />
Ressourcen, die zu Gebote stehen.<br />
Viele sind traumatisiert von der Flut des Elends, den Schreien<br />
und dem Chaos, gegen das sie im Appendix Tag um Tag<br />
ankämpfen mussten. Im Corpus dann muten die elysische<br />
Ruhe und die Konzentration wie eine unwirkliche Posse an<br />
– erst recht, wenn die Famulanten erkennen, dass es ein leichtes<br />
wäre, das Siechtum in der äußeren Zone und weit darüber<br />
hinaus effektiv zu bekämpfen und einzudämmen. Unmengen<br />
an Antibiotika und anderen hochwirksamen Mitteln warten in<br />
den unterirdischen Lagern nur auf ihren Einsatz, und doch<br />
halten die allmächtigen Konsultanten die Medikamente ohne<br />
begreiflichen Grund unter Verschluss.<br />
Für viele Famulanten ist dies der Scheideweg, eine Gratwanderung<br />
zwischen Gewissen und Obrigkeitsgehorsam. Sollen<br />
sie die Unfehlbarkeit der Mächtigen an der Spitze der Spitalier-<br />
Hierarchie anerkennen und die eigenen Zweifel als Unwissenheit<br />
abtun? Oder sollen sie aufbegehren und darum kämpfen,<br />
dass die Tore für die Hilfesuchenden aufgestoßen werden<br />
– und die Verbannung riskieren? Denen, die letzteres als ihren<br />
Weg erkennen, begegnet man als Heilsbringer in Dörfern oder<br />
vor den Mauern des Spitals – einstmals stolze Gestalten, die<br />
jetzt von einem flackernden Wahn beseelt gegen den gottlosen<br />
Geiz der Spitalier wettern.<br />
Die Zahl der linientreuen Famulanten ist groß, wie gewissenlose<br />
Drohnen stürzen sie sich auf die Arbeit, um eines<br />
Tages verstehen und ihre Wahl rechtfertigen zu können. Verbissene<br />
Konzentration und die Abkehr von der äußeren Welt<br />
sind notwendig, will man die nächste Stufe in der Hierarchie<br />
erklimmen. Ärzte und Konsultanten beobachten und doku-