Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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stürzt auf ihn nieder, um ihm die Augen auszupicken – doch<br />
stark genug ist sie nicht. Was dem Löwen an Beweglichkeit<br />
fehlt, macht er durch seine Klauen und seine Wildheit wett.<br />
Edel und erhaben ist er, der König der Savanne. Er setzt zum<br />
Sprung über das große Wasser an, wird bald Staub aufwirbeln<br />
in der Domäne der Krähe. Es ist ein ungleicher Kampf, geführt<br />
<strong>mit</strong> ungleichen Waffen.<br />
D A S M I T T E L M E E R<br />
Seit Jahrhunderten stoßen afrikanische Völker über das Mittelmeer<br />
in den Norden vor, um den unwissenden Sipplingen die<br />
Produktionsanlagen ihrer Ahnen zu entreißen. Die Europäer<br />
gebärden sich keinen Deut besser. Ob aus Verzweiflung oder<br />
aus Berechnung entsenden sie ihre Truppen, um afrikanisches<br />
Öl zu sichern – nur wenige Tage an den Bohrlöchern erlauben<br />
Dominanz über Wochen hinweg im eigenen Land.<br />
D I E F Ä U L N I S<br />
Zu Zeiten des Urvolks gab es Gelehrte, die unseren Heimatplaneten<br />
als lebendes, bewusstes Wesen ansahen – sie nannten<br />
es Gaia. Menschen und Tiere wären die Neuronen in einem<br />
gewaltigen Nervengeflecht, Epidemien und Seuchen nichts<br />
weiter als eine Immunreaktion auf krankhafte Wucherungen.<br />
Diese Vorstellung beruhigt die einen und verängstigt die anderen<br />
– auf der einen Seite steht das Gefühl, der Splitter eines<br />
großen Ganzen und da<strong>mit</strong> Teil einer göttlichen Wesenheit zu<br />
sein, auf der anderen Seite der Argwohn, dass die eigene Individualität<br />
nichts weiter als eine billige Illusion ist.<br />
Damals trommelten und tanzten sich die Menschen in Ekstase,<br />
wühlten sich in die Erde, wälzten sich im Dreck, um eins<br />
zu werden <strong>mit</strong> der Erdengöttin. Damals war Gaia blind und<br />
taub für das Begehren ihrer Anhänger. Heute hat sie ihre Arme<br />
weit geöffnet, und die Menschen entwinden sich verzweifelt<br />
ihrer Umklammerung. Sind es nur die Spinnereien von Wilden,<br />
wenn sie davon berichten, ihren Geist an Mutter Erde verloren<br />
zu haben? Vielleicht. Aber etwas geschieht <strong>mit</strong> der Erde,<br />
und es geht von den Kratern aus. Man nennt es die Fäulnis,<br />
ein sich rasch ausbreitender Sporenpilz, der Land und Leute<br />
gleichermaßen befällt. Er verändert die Menschen. Mutierte<br />
Kinder <strong>mit</strong> dämonischen Fähigkeiten werden geboren. Man<br />
schimpft sie Absonderliche und mancherorts auch Entseelte;<br />
weniger emotional gefärbt werden sie Psychonauten genannt.<br />
Es scheint, als wären sie nur ein vorübergehender Gast in der<br />
Gemeinschaft der Menschen, denn ihre Augen sind kalt wie<br />
der Sternenhimmel. Die Schamanen der Nomadenvölker, verrückt<br />
wie tollwütige Hunde und <strong>mit</strong> drogenumwölktem Geist,<br />
brabbeln etwas von verlorenen Seelen und dem Gebärmutterschlauch<br />
der Gaia. Kaum zu verstehen von Menschen, die in<br />
der kühlen Realität verankert sind und sich fern von Rauschkräutern<br />
halten. Doch Aberglauben muss nicht verstanden<br />
werden, er wird gefühlt, schleicht sich in den Geist einer Gemeinschaft<br />
und zersetzt ihn <strong>mit</strong> seinem unsichtbaren Gift.<br />
Und so gelten Familien von entseelten Kindern als unrein<br />
und verflucht. Diese zappelnden, bleichen Bälger auf den<br />
Armen ihrer Mütter wecken eine urtümliche Angst in den<br />
Herzen der Ammen und Alten, die sich ihrer annehmen.<br />
Dieser abfällige Blick, den selbst die Säuglinge schon jedem<br />
entgegen schleudern, der es wagt, sich über sie zu beugen.<br />
Und sie sind so anders: Sie leiden nicht unter der Kälte, fühlen<br />
sich stets in der Umgebung wohl, in die sie hineingeboren<br />
wurden, sei sie noch so unwirtlich; dann sind sie Einzelgänger,<br />
die den eigenen Gedanken nachhängen statt sich dem wilden<br />
Spiel und den Raufereien ihrer Altersgenossen anzuschließen.<br />
Ihre plötzlichen Wutausbrüche besiegeln ihr Außenseitertum<br />
schließlich.<br />
Bestenfalls lässt man sie gewähren, meidet sie aber. Zumeist<br />
verstößt man sie aus der Dorfgemeinschaft oder stürzt sie in<br />
Kavernen oder von Klippen, solange man es noch vermag.<br />
Doch lange hält es die absonderlichen Kinder ohnehin nicht<br />
an der Brust der Mutter: Sobald sie sich wie eine Zecke vollgesaugt<br />
haben, fallen sie satt und rosig ab und fliehen in das<br />
Ödland, wo sie sich <strong>mit</strong> anderem psychonautischen Gezücht<br />
verstecken. Die wahren Eltern sind andere, viele und doch nur<br />
eine: Gaia. Und sie ruft nach ihren Kindern.<br />
P R I M E R<br />
Einige wenige technologisch entwickelte Kulte, darunter die<br />
Ärzteorganisation der Spitalier, glauben die Ursache für die<br />
Fäulnis und die Psychonauten ausgemacht zu haben: Ein<br />
mythischer Stoff aus den Weiten des Alls, ein Parasit der Asteroiden.<br />
Die Ärzte nennen ihn Primer – vom urvölkischen<br />
„Primal“ oder „Primus“, dem Urtümlichen oder Ersten, aber<br />
auch vom englischen „Primer“, dem Zünder. Denn er hat<br />
etwas angestoßen, das unaufhaltsam wie ein Funke die Zündschnur<br />
abbrennt; jeder verstrichene Tag bedeutet neues Land<br />
für Fäulnis und Psychonauten.<br />
Bislang konnte keine Unze des Primers geborgen werden,<br />
aber man spricht ihm ähnliche Eigenschaften wie dem legendären<br />
Stein der Weisen zu. Jene mythische Substanz vermochte,<br />
den Aufzeichnungen der Alchimisten nach, Blei in Gold zu<br />
verwandeln – das Blei des Primers sind Gene und Geist, sein<br />
Gold eine neue Lebensform. Dabei geht der Urstoff vollends<br />
im Neuen auf, seine Reinform zerfällt. Wie beim Stein der<br />
Weisen steht auch beim Primer der Beweis seiner Existenz<br />
noch aus. Ist es ein ebenso großer Hokuspokus wie damals bei<br />
den Alchimisten und da<strong>mit</strong> nur der verzweifelte Versuch, das<br />
Unfassbare <strong>mit</strong> Theorien zu kontrollieren?<br />
A N PA S S U N G S R E A K T I O N<br />
Die Fäulnis gilt in Spitalier-Kreisen als eine der ersten Anpassungsreaktionen<br />
der Umwelt an den Primer. Die feinen Pilz-<br />
Myzele wurden bereits hundertfach in den Laboren der Ärzte<br />
untersucht, und bei allen Proben stieß man auf veränderte<br />
Gen-Sequenzen. Riesige Teile waren heraus geschnitten und<br />
durch fremdes Erbgut ersetzt worden. Dabei gab es je nach<br />
Region gravierende Unterschiede, doch einige Eigenschaften<br />
scheinen in allen Varianten identisch. Auch deutet vieles darauf<br />
hin, dass es stets die gleiche Pilzart war, die mutiert wurde.<br />
Offensichtlich lässt sich der ursprüngliche Pilz optimal vom<br />
Primer manipulieren. Eine andere Theorie besagt, dass er von<br />
allen Lebensformen, auf die der Primer traf, die am besten<br />
angepassteste oder auch effektivste war.