Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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Heiler verweisen. Vom verzweifelten Glauben an die Allmacht<br />
der Ärzte beseelt, machen sich viele Kranke aus entlegenen<br />
Regionen der Staublunge auf den beschwerlichen Weg zum<br />
Spital – ein nie abreißender Tross gebeugter Gestalten, vom<br />
Siechtum gezeichnet.<br />
Ihr Ziel liegt in den östlichen Ausläufern der Staublunge<br />
in<strong>mit</strong>ten eines Ruinenfeldes. Viele der Zugangsstraßen wurden<br />
von Geheilten als Buße und Dank von Trümmern und alten<br />
Karossen geräumt. Kleine Steinaltäre säumen den Weg. Opfergaben<br />
in Form ausgebluteter Ratten, Ketten oder Gestecke<br />
aus Flechten und Technikschrott sind ein sicheres Indiz dafür,<br />
dass man sich dem Spital nähert. Für all die Verirrten wurden<br />
in der Umgegend Schilder <strong>mit</strong> dem Spitalierkreuz und Pfeilen<br />
aufgestellt, die den Weg durch das Labyrinth der Trassen zu<br />
einer der Hauptstraßen weisen.<br />
Niemand kann <strong>mit</strong> Sicherheit sagen, wo der Übergang zwischen<br />
Ödland und äußerem Ring vollendet ist und wie weit<br />
das Spitalier-Gebiet in das Ruinenfeld reicht: Plötzlich steht<br />
man in<strong>mit</strong>ten keuchender Lumpengestalten, passiert Zelte, es<br />
riecht nach Erbrochenem. Von den Spitaliern selbst wird diese<br />
Zone kühl „Appendix“ genannt, ein ungeliebtes Anhängsel.<br />
Durch das Verriegeln der Tore in der Festungsmauer des inneren<br />
Rings kann sie leicht vom Rest des Spitals abgeschnitten<br />
werden.<br />
Die nur in Vollschutz auftretenden, eingekalkten Spitalier-<br />
Patrouillen registrieren jeden Neuankömmling, stellen eine<br />
erste Diagnose, benennen den Preis einer Behandlung und<br />
weisen je nach Krankheitsbild einen Platz in der weitläufigen<br />
Appendix-Zone zu. Diese ist streng in einzelne Sektoren für<br />
die unterschiedlichen Gebrechen unterteilt: Da wären das<br />
Cholera-Viertel, die Pestgasse, die Ruhr-Allee und andere zu<br />
nennen.<br />
Die Ruinen der Alten sind wieder bewohnt – eine Stadt,<br />
erfüllt von flackerndem, kränklichem Leben in den Zeiten<br />
des Andrangs, eine nach Verwesung stinkende Nekropole in<br />
den Zeiten der Ohnmacht. Einige der dunklen, hoch in den<br />
Himmel ragenden Gebäude sind <strong>mit</strong> Warnzeichen versehen,<br />
welche <strong>mit</strong> breiten Pinseln und roter Farbe grob gemalt die<br />
gesamte Häuserfront überziehen; andere Bauten sind nicht<br />
mehr als verkohlte Betonskelette, gereinigt von Keimen durch<br />
Feuerstöße aus spitalischen Brennern. Zelte und Hütten aus<br />
Metallschrott sprießen überall dort aus dem Boden, wo ein<br />
Viertel überfüllt ist. <strong>Das</strong> zugewiesene Gebiet zu verlassen wagt<br />
niemand.<br />
So bizarr es auch zwischen all den zerlumpten, Schleim<br />
rotzenden und dahinsiechenden Gestalten scheinen mag, es<br />
gibt ein normales Leben in dieser Stadt der Verdammten: Familien<br />
verweilen an der Seite ihrer Kranken, gehen einfachen<br />
Arbeiten nach; Bettler drücken sich an die Häuserwände und<br />
flehen um Nahrung und Wasser; Händler <strong>mit</strong> nassen Tüchern<br />
über Mund und Nase bieten zubereitete Früchte, Knollen und<br />
Flechten zu überteuerten Preisen an.<br />
Die Möglichkeiten der Spitalier in dieser Siechtumszone<br />
sind begrenzt, und viele der aus der Ferne Herbeigereisten<br />
verrecken elendig, während sie auf die überlasteten Ärzte warten,<br />
die sich Tag um Tag durch Ströme wimmernder Gestalten<br />
kämpfen. Es gibt Nächte, wenn der Wind aus Südwest weht,<br />
da glaubt man das Geschrei und Gejammer der Sterbenden<br />
bis in das ferne Technikcentrum vernehmen zu können, dort<br />
kaum mehr als ein angstvolles Seufzen.<br />
Niemand im Appendix kann sich sicher sein, nicht ebenso<br />
zu enden wie die klamme Gestalt in der Hütte nebenan. Nur<br />
Waren oder Wechsel erhöhen die Überlebenschance, denn <strong>mit</strong><br />
ihnen vermag man sich den Weg durch die befestigten Tore in<br />
den Corpus zu erkaufen.<br />
P R I M E R - W I S S E N<br />
<strong>Das</strong> Volk vertraut auf das Wissen der Spitalier bezüglich des<br />
Primers, der Fäulnis und der Psychonauten. Der Glaube geht<br />
in Borca soweit, dass die Warnung der Ärzte, Insekten könnten<br />
Sporenträger sein, zu einem regelrechten Vernichtungswahn<br />
der kleinen und meist harmlosen Gliedertiere geführt hat.<br />
Doch was wissen die Ärzte wirklich? Eine schwere Frage,<br />
da sich das Spital nur ungern in die Karten schauen lässt<br />
und seinen Mythos der Allwissenheit hinter dem Schleier<br />
der Geheimnistuerei bewahrt. Sicherlich wissen die unteren<br />
Dienstgrade bis zu den Famulanten und Ärzten hinauf nur<br />
das Nötigste: Die Verbindung zwischen Primer und Fäulnis,<br />
Grundlagen über die Metamorphosen eines Sporenfeldes,<br />
Verbreitungsarten. Die Konsultanten und einige Altvordere<br />
werden über weiterreichende Informationen verfügen, scheinen<br />
diese aber vor der Masse der Spitalier unter Verschluss zu<br />
halten. Was sehr ungewöhnlich ist, da doch jegliches Wissen<br />
von Nutzen sein könnte.<br />
D E R I N N E R E R I N G :<br />
C O R P U S<br />
Im Corpus erinnern nur die über die Mauern wehenden<br />
Schreie an das Leid und das Chaos im Appendix. Die Spitalier<br />
in dieser Zone legen ein geschäftiges Treiben an den Tag, sind<br />
nervös und überarbeitet, aber nicht abgezehrt und verzweifelt<br />
wie ihre Kollegen im Appendix. Ein Labyrinth aus Baracken,<br />
schmalen Gassen, Tunneln, Kavernen und einigen größeren<br />
Plätzen überzieht das Gebiet; in seiner Mitte thronen die<br />
schmutzigen Betonblöcke des Spitals. Jeder kennt hier seinen<br />
Weg, beschreitet ihn ebenso sicher, wie eine Ameise den Pheromonspuren<br />
ihrer Königin folgt. Kein Fremder wird jemals<br />
in die Verlegenheit kommen, sich im Corpus orientieren zu<br />
müssen, denn die wenigen Kranken, die sich eine bessere Behandlung<br />
erkauft haben, werden sofort in die Baracken nahe<br />
der Tore gebracht, wo sie bis zur Genesung verbleiben. Und<br />
sie tun gut daran, sich an den verordneten Hausarrest zu halten<br />
– der Corpus ist für Uneingeweihte ein gefährlicher Ort:<br />
In den zahlreichen Hochsicherheitslaboren werden die Auswirkungen<br />
von Seuchen auf Tiere untersucht; hier befinden<br />
sich auch die Zugänge in die unterirdischen Lagerstätten für<br />
Sporen- und Seuchenopfer. Kaum ein anderer Ort im Ödland<br />
besitzt wie dieser das Potenzial, den endgültigen Tod über die<br />
Menschheit zu bringen: Pest, Cholera, Typhus, Ruhr und viele<br />
andere Proben von Seuchen lagern hier, sorgsam eingesponnen<br />
von den Echein-Spinnen. <strong>Das</strong> Tragen von Schutzmasken<br />
ist ebenso Pflicht, wie eine <strong>vollständige</strong> Desinfektion der Ausrüstung<br />
und freier Hautpartien in einem Destillat-Bad nach<br />
Verlassen der Kavernen.