Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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D I E S P R A C H E D E R R I C H T E R<br />
<strong>Das</strong> Testament des Gründers war gespickt <strong>mit</strong> lateinischen<br />
und griechischen Floskeln und Sinnsprüchen. Vieles davon<br />
blieb lange Zeit unverstanden, zu fremd waren die uralten<br />
Sprachen. Und obwohl der Schrift inzwischen alle Geheimnisse<br />
entrissen wurden und der Kult über ausgezeichnete Sprachexperten<br />
verfügt, sahen sich die Richter nie berufen, Latein<br />
als Amtssprache einzuführen. <strong>Das</strong> Gesetz unter das Volk zu<br />
bringen ist eine Herausforderung an sich; das Volk müsse<br />
verstehen, um die Weisheit des Kodex annehmen zu können,<br />
so die Meinung der Protektoren. Die Advokaten halten dagegen<br />
und sehen ihr Gewalten-Monopol gefährdet: Wenn das<br />
Volk die Gesetze versteht und verinnerlicht, wozu bedarf es<br />
dann der Richter? Dieser Konflikt zwischen Protektoren und<br />
Advokaten ist so alt wie der Kult selbst und wird seit jeher in<br />
den justitianischen Senaten diskutiert. Bislang blockieren sich<br />
diese; traditionsgemäß verzichtet der Erste Richter darauf, <strong>mit</strong><br />
seiner Stimme eine Entscheidung herbeizuführen.<br />
Einigen lateinischen Begriffen gelang es dennoch, sich in<br />
den Wortschatz der Richter zu schleichen: So wird der Erste<br />
Richter oft als „primus inter pares“ bezeichnet, als Erster unter<br />
Gleichgestellten. Eine Verhandlung wird „coram publico“,<br />
nämlich vor der Öffentlichkeit gehalten; die Fürsprecher der<br />
Gegenseite werden <strong>mit</strong> „Audiatur et altera pars!“ (Man soll<br />
auch die andere Seite hören!) in den Zeugenstand gerufen und<br />
Protektoren <strong>mit</strong> „Per aspera ad astra“ (auf rauen Pfaden zu<br />
den Sternen, durch Kampf zum Sieg) auf eine bevorstehende<br />
Schlacht eingestimmt. Manch Richter beendet sein Urteil<br />
<strong>mit</strong> „Punctum!“ (Schluss!) oder stellt einem Todesurteil ein<br />
„Mors certa, hora incerta.“ (Der Tod ist gewiss, seine Stunde<br />
ungewiss) vorweg, während nahezu jeder zweite Satz der<br />
Urteilsbegründung <strong>mit</strong> einem „de iure“ (von Rechts wegen)<br />
gewürzt sein kann.<br />
Einige Richter fühlten sich nackt, dürften sie sich nicht in<br />
ein Gewand aus unverständlichen Phrasen kleiden. Andere<br />
verzichten völlig auf die lateinischen Floskeln. Der Kult selbst<br />
macht diesbezüglich niemandem Vorschriften.<br />
D I E R I C H T H A L L E<br />
Im Zentrum Justitians, so nahe am zentralen Cluster, dass<br />
der Lärm der krächzenden Lautsprecher und Rückkopplungen<br />
noch wahrnehmbar ist, liegt der Hauptsitz des Kults,<br />
die Richthalle. Die tief in die Fassade eingeschnittenen drei<br />
Hauptportale <strong>mit</strong> ihren Zickzackfriesen öffnen sich zur Richtallee<br />
hin. Zwischen ihnen ragen zwei erhabene Bronzestatuen<br />
im Richtergewand acht Meter in die Höhe: Die eine stützt sich<br />
auf den Hammer, die andere drückt das staubige Ebenbild des<br />
Kodex an ihre Brust. Ihr kühler Blick ist auf die Baustelle des<br />
Kolosses am Ende der Allee gerichtet.<br />
Die Richthalle hat einen rechteckigen Grundriss <strong>mit</strong> einer<br />
Länge von achtzig und einer Breite von fünfzig Metern und<br />
ist ein Bollwerk aus dicken Mauern und kräftigen Pfeilern, die<br />
das Gewicht der Innengewölbe tragen. Hohe Bogenfenster <strong>mit</strong><br />
kunstvollen Glasmalereien, welche symbolisch die Tugenden<br />
der Richter auf der einen, und die Todsünden der Gesetzlosen<br />
auf der anderen Seite darstellen, durchbrechen die eckige Gliederung<br />
des Baus. <strong>Das</strong> Dach in vierzehn Metern Höhe ist ein<br />
breiter umlaufender Wehrgang <strong>mit</strong> niedrigen Bunkertürmen<br />
an den vier Ecken. Dickbauchige Kanonen und Mörserlafetten<br />
starren von dort oben grimmig auf Besucher hinab. Dahinter<br />
patrouillieren die Protektoren.<br />
Ein einstöckiger, <strong>mit</strong> Bruchstein ummantelter Betonbau aus<br />
voreshatologischer Zeit drängt sich an die schattige Nordseite.<br />
Dort kommen die Pferde der Richter unter. Man sagt, sie hätten<br />
es besser als so mancher Bürger Justitians.<br />
Im Inneren der Richthalle, die in Wirklichkeit aus mehreren<br />
Gewölben besteht, herrscht eine sakrale Stimmung. Die Buntglasfenster<br />
brechen das Licht zu einem Farbenspiel aus blauen,<br />
roten und grünen Flächen. Richter und Chronisten gehen hier<br />
ein und aus; die wichtigsten Ämter finden sich im südlichen<br />
Trakt. Im Zentrum stößt man auf einen Innenhof, der von einem<br />
Kreuzgang umlaufen wird. Hier treffen sich Protektoren<br />
und Advokaten zum erbaulichen Gespräch oder um dem Training<br />
der Vollstrecker zuzusehen. In der Haupthalle residiert<br />
der Erste Richter; in den flankierenden Nebenhallen kommen<br />
die Senate zusammen.<br />
D I E K A S E R N E N<br />
An strategisch bedeutsamen Punkten in Justitian hat die Richterschaft<br />
Kasernen errichten lassen. Sie sind die Heimstatt<br />
der Protektoren, die hier schlafen, essen und trainieren. Ihre<br />
Pferde nächtigen in den angeschlossenen Ställen. Die Zahl der<br />
stationierten Richter schwankt je nach Bedeutung der Kaserne<br />
zwischen zehn und einhundert. Die großen Anlagen sind<br />
<strong>mit</strong> mehreren Schlafhallen, unterirdischen Arsenalen, großen<br />
Exerzierplätzen und bunkerartigen Befestigungsanlagen ausgestattet.<br />
Alle sind <strong>mit</strong> Stacheldrahtbarrieren oder Zäunen<br />
bewehrt.<br />
S PA N N U N G E N<br />
Die Spannungen zwischen Protektoren und Spitaliern wachsen.<br />
Die Ärzteorganisation ist stark in Justitian, und sie hat ihre<br />
eigenen Gesetze. Als Zugeständnis an die Ärzte ächteten die<br />
Richter Burn und verbannten Psychonauten aus dem Protektorat.<br />
Doch den Spitaliern reicht das nicht. Sie patrouillieren<br />
die Straßen auf eigene Faust und bringen jeden Absonderlichen<br />
auf bewährte Weise <strong>mit</strong> ihren Spreizern zur Strecke,<br />
untergraben da<strong>mit</strong> die Authorität der Exekutive. Diese Missachtung<br />
des Kodex wiederum lässt die Advokaten aufhorchen,<br />
die den Protektoren <strong>mit</strong> galliger Stimme vorwerfen, Justitian<br />
nicht kontrollieren zu können.<br />
<strong>Das</strong> Verhältnis zu den Chronisten ist hingegen von sachlicher<br />
Professionalität geprägt. Man schätzt sich und macht<br />
reichlich von den Fähigkeiten des anderen Gebrauch: Die<br />
Richter benötigen bei der Größe des Protektorats ein funktionierendes<br />
Kommunikationsnetz, die Chronisten bedürfen des<br />
Schutzes einer wehrhaften Organisation.<br />
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