Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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doch: Die Worte des Predigers über Erleuchtung und Demut<br />
hallen leer und unbeachtet über den Marktplatz, Segnungen<br />
werden <strong>mit</strong> einer fahrigen Handbewegung weggewischt. Der<br />
alte Sermon.<br />
Krähen beobachten das Treiben von den Dächern, erheben<br />
sich und gleiten hinab zu den weiten, wogenden Felder der<br />
adriatischen Tiefebene. Kilometer fruchtbaren Landes, dann<br />
plötzlich wirkt der Boden wie von einem Heer übereifriger<br />
Maulwürfe umgegraben: Gräben, Verteidigungswälle und verkohlte<br />
Reste von Hochsitzen zu beider <strong>Seiten</strong> eines glitzernden<br />
Stroms verwandeln die Idylle in ein Alptraumszenario.<br />
Die Krähen wissen, wo sie zu suchen haben. Sie brauchen<br />
nicht lange ihre Kreise zu ziehen, um einen geschwärzten,<br />
noch immer brennenden Graben oder ein aufgebrachtes Boot<br />
zu finden. Sie gleiten vorsichtig hinab, landen dann auf den<br />
Leibern, picken prüfend. Dann zupfen sie den Opfern des<br />
Krieges das verrottende Fleisch von den Knochen. Sie sind die<br />
einzigen Gewinner.<br />
A U F B E G E H R E N<br />
Vor langer Zeit wandelte das Urvolk in Gärten voller Wonne,<br />
labte sich an fruchtbaren Olivenbäumen, trank würzigen Wein<br />
an den Hängen der Apenninen. Dekadent war es, zog die Lust<br />
der Demut vor. Obwohl es über wahre Wunderwerke der<br />
Technik gebot, war ihm die Erkenntnis um die Natur der Welt<br />
abhanden gekommen. <strong>Das</strong> Materielle gewann an Bedeutung<br />
und ließ die Seele hinter sich. So konnte es nicht ewig gehen.<br />
Die einen mögen es Gott nennen, für andere ist es ein ausgleichendes<br />
Prinzip, das die Extreme aus unserer Realität tilgt – als<br />
was man es auch sieht, es sollte das Urvolk in seine Schranken<br />
weisen. Es manifestierte sich als eine Katastrophe biblischen<br />
Ausmaßes: Feuer stürzte vom Himmel, verbrannte die Heimstatt<br />
der Sünde zu Asche. Wie aufgescheuchte Hühner rannten<br />
die Menschen durch die Ruinen ihrer Eitelkeit und gackerten<br />
und gackerten. Während sie sich beklagten und die Fäuste ungehalten<br />
gen Himmel schüttelten, verbargen sich einige wenige<br />
Aufrichtige still und ergeben in den Spalten, die vom Eshaton<br />
geschlagen wurden. Dann harrten sie der Dinge und lauschten<br />
<strong>mit</strong> Widerwillen dem armseligen Tumult um sie herum. <strong>Das</strong><br />
aufgeregte Geschnatter verlor an Kraft, verebbte langsam.<br />
Noch immer wehten Schmerzens- und Wutschreie über das<br />
Massengrab der menschlichen Zivilisation. <strong>Das</strong> Urvolk widersetzte<br />
sich seinem Schicksal. Solange noch einer der ihren<br />
überlebte, würde es niemals Frieden geben. Da sprangen die<br />
Aufrichtigen aus ihren Verstecken und setzten dem Gezeter<br />
<strong>mit</strong> Feuer und Schwert ein Ende. Stille lag über dem blutenden<br />
Land. Endlich.<br />
Gott/das Prinzip nickte in Zustimmung und gewährte den<br />
Aufrichtigen eine Gnade: Er sandte eine säubernde Sintflut<br />
wider die Ufer des Landes und riss die verderbten Überreste<br />
des Urvolks zurück in das Meer, aus dem sie einst entstiegen<br />
waren. Der Vorhang des ersten Akts fiel und die Bühne für<br />
die entscheidende Schlacht war bereitet. <strong>Das</strong> Land wurde<br />
zu gleichen Teilen an Dämonen und Menschen gegeben,<br />
da<strong>mit</strong> sie um es kämpften. Entseelte Wesen – die Kadaver<br />
der Vorfahren? – entsprangen den Fluten, stellten sich gegen<br />
die Reihen der Purger, wie sich die Aufrichtigen inzwischen<br />
nannten. Man beäugte sich misstrauisch, suchte Furcht in den<br />
Augen der Gegner und fand nur Entschlossenheit. Schon<br />
stießen die Streiter des Guten ihre Speere rhythmisch auf den<br />
Boden, setzten zu einem Gesang an, der die Furcht im Herzen<br />
der Gegner wecken sollte. Da drang das Geschmeiß getrieben<br />
von Hass und Angst voran, ein gar widerlicher Teppich aus<br />
schwarzen Chitinleibern und fahler Haut. Welle um Welle<br />
brandete auf die Purger ein, zerfetzte die Standhaften <strong>mit</strong> der<br />
bloßen Kraft fauler Gedanken, labte sich an aufgebrochenen<br />
Leibern. Wenn ein Wesen fiel, zerplatzte es in einer Wolke<br />
aus weißen Sporen, so dass die Verteidiger bald wie in Mehl<br />
gewälzt ausschauten.<br />
Der Kampf sollte Jahrzehnte toben, mal dominierte die<br />
eine, mal die andere Seite. Zurück ließ er ein unfruchtbares und<br />
vergewaltigtes Land; eine dichte Rußschicht verblieb über dem<br />
sterbenden Leib des Paradieses, das Italien einst war. Es neu zu<br />
beleben und jeden Splitter Boshaftigkeit in den Höllenschlund<br />
zurückzustoßen, danach strebten die Purger. Doch der Kampf<br />
war nicht entschieden, noch stand viel Blut und Gedärm zwischen<br />
ihnen und ihrem Ziel. Die Entseelten dominierten noch<br />
immer den Westen. So leckten sich die Purger ihre Wunden in<br />
den weiten Grassteppen östlich der Apenninen, stärkten ihren<br />
Glauben und harrten wieder einmal der Dinge.<br />
<strong>Das</strong> ist sie, die Vergangenheit Purgares. Wie das Volk sie<br />
sieht. Und sie gibt eine Zukunft vor, in der Worte wie Verständnis<br />
und Liebe hinter Worten wie Auslöschung und Hass<br />
zurückstehen müssen. Die Wahrheit um jene schicksalhaften<br />
Tage vor fünf Jahrhunderten ist vergessen, die geschriebene<br />
Geschichte endete <strong>mit</strong> der Apokalypse. Ignoranz und religiöser<br />
Wahn in den Jahren danach vollendeten das Werk der Zerstörung,<br />
zerbrach den Schlüssel zu den großen Wissensbeständen<br />
des Urvolks in nur drei Generationen: Die Schriftsprache,<br />
sie wurde aus dem Geist der Bevölkerung getilgt. Auf die alte<br />
Kultur wurde so lange eingeschlagen, bis nichts mehr blieb<br />
als Kampf und Furcht. Mündlich überlieferte Legenden und<br />
Mythen vernebelten den Verstand und erschufen eine Welt der<br />
Dämonen und des ewigen Krieges der Menschen gegen eben<br />
diese. Und die Purger waren die Auserwählten.<br />
S I C H T U N G E N<br />
Doch es gab auch jene, die sich nicht von ihren Vorfahren<br />
und deren Gedankengut abwenden wollten. Sie beobachteten<br />
den Mord-Reigen grimmig aus der Ferne, erlebten die<br />
Demontage ihrer Kultur in all ihrer Tragik. Sie gewähren uns<br />
heute bruchstückhafte Einblicke in die Zeit des Eshatons,<br />
ungetrübt von religiösem Brimborium. So berichten sie von<br />
einer gewaltigen Flut, gefolgt von Ascheregen und Gaswolken,<br />
die das Volk zur Flucht über die Apenninen zwang. Man war<br />
erschöpft, verschreckt und dem Hungertod nahe. Viele Purger<br />
ließen sich einfach fallen, wo sie standen; warteten angelehnt<br />
an einer kühlen Betonmauer auf das Ende. Der Lebenswille<br />
war gebrochen. Dazu brauchte es keine Monster und epische<br />
Schlachten.<br />
Erst Jahrhunderte später gab es die Sichtungen in der Avellino-Region<br />
beim großen, versporten Krater, keine 50km östlich<br />
des Vesuvs, die alles ändern sollten. Schrotter stießen dort auf<br />
mehrere zurückgezogen lebende Menschen, die trotz des kalten<br />
Winters halbnackt in der Erde nach Wurzeln gruben oder<br />
Wasser aus Schlammgruben schöpften. Ihre blassen Leiber<br />
waren übersät von Tätowierungen, Dutzende Egel hatten sich<br />
an ihnen festgesaugt. Sie bewegten sich schnell und zielsicher,<br />
ein inneres Feuer schien sie anzutreiben. Man hielt sie zuerst<br />
für Ere<strong>mit</strong>en und ging ihnen aus dem Weg, respektierte ihre<br />
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