Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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„Mh...“ Sie schmiegte sich an ihn, berührte <strong>mit</strong> ihren sinnlichen<br />
Lippen sein Ohr. Dann biss sie zu. Er schrie und wollte<br />
sie von sich stoßen, doch ihre Beine umklammerten ihn wie<br />
Schraubstöcke. Sie umschlang ihn und fixierte seine Arme<br />
– und ja, sie hatte Kraft! Dann ließ sie von ihm ab, sprang<br />
auf und spuckte ihm ein Stück dünnes Fleisch ins Gesicht.<br />
Er zuckte zurück, schlug panisch nach dem glitschigen Ding<br />
wie nach einem Fledermausschwarm und stürzte hintenrüber.<br />
Sofort kam er wieder hoch, stand breitbeinig in einer immer<br />
größer werdenden, schwarzen Pfütze. Eine Gesichtshälfte<br />
war blutverschmiert. Seine Augen waren weit aufgerissen,<br />
irrlichterten durch den Raum, suchten Hilfe in den fremden<br />
Gesichtern. Aber sie alle waren ausdruckslos, starrten ihn aus<br />
dem Halbdunkel der Kneipe an. Mit zittrigen Fingern tastete<br />
er nach seinem Ohr.<br />
„Warum?“ wimmerte er, versuchte immer wieder das fehlende<br />
Stück zu ertasten. Er wollte es nicht wahrhaben.<br />
„Du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet,<br />
Dushkov.“<br />
Ihr Mund glich einer offenen Wunde. Ein Blutrinnsal lief ihr<br />
vom Mundwinkel das Kinn hinab und von da den Hals hinunter,<br />
bis es sich zwischen ihren Brüsten verlor. Der Rest war zu<br />
einem grotesken Makeup verschmiert.<br />
„<strong>Das</strong> Passwort, verdammt, zur Belohnung! Von der alten<br />
Deisha!“ Seine Stimme überschlug sich.<br />
„Er weiß es nicht.“ Hohn lag in ihrer Stimme. Sie blickte<br />
sich zu den anderen Apokalyptikern um, die den Kreis jetzt<br />
enger zogen. Einige lachten.<br />
„Dieses Passwort,“ sie holte Luft, genoss den Moment<br />
der Spannung, „ist nicht das Passwort für das Bordell.“ Ihre<br />
Stimme klang jetzt amüsiert. „Hättest du es genannt, hätte dich<br />
Siska am Eingang eine Tür weiter geführt. Gerade in diesem<br />
Moment geht es da drüben heftig ab.“ Sie deutete <strong>mit</strong> dem<br />
Daumen auf die Wand hinter ihr und grinste.<br />
„Zickzack wird nur an jene ausgegeben, die uns verraten.<br />
Da<strong>mit</strong> sich die Raubkrähen um sie kümmern.“ Sie blickte auffordernd<br />
in die Runde.<br />
„Und jetzt zeigen wir dem Süßen, wofür ‚Zickzack’ wirklich<br />
steht.“<br />
M Y S T I K U N D G E WA LT<br />
<strong>Das</strong> Gestern ist den Apokalyptikern ebenso unwichtig wie das<br />
Morgen. Sie leben im Jetzt, bündeln all ihre Bestrebungen auf<br />
die Befriedigung ihrer Triebe; die Liebkosung einer duftenden<br />
Frau oder eines kräftigen Mannes ziehen sie der Liebkosung<br />
der Seele durch das Wissen staubiger Bücher vor. Die Geschichte<br />
ihres Kults wurde darüber vergessen. Nur die Chronisten<br />
sammelten über die Jahrhunderte Fakten und Legenden,<br />
derer sie über die Apokalyptiker habhaft werden konnten und<br />
setzten sie zu einem lückenhaften Puzzle zusammen. Alte Aufzeichnungen<br />
deuten darauf hin, dass die Wurzeln des Kults<br />
bereits in voreshatologischer Zeit stark und weit verzweigt waren.<br />
Gerome Getrell, ein Televangelist und Meister des Tarots<br />
strahlte damals aus Millionen Fernsehgeräten – direkt in die<br />
erweichten Hirne der Dauerglotzer und Pseudochristen. Er<br />
predigte freie Liebe, Kommunismus, Anarchie, Demokratie,<br />
Diktatur – Paradoxen, die nur einen Schluss zuließen: Lebe,<br />
wie es dir die Situation erlaubt, aber lebe! Sei niemandes Sklave!<br />
Lebe so, als ginge am nächsten Tag die Welt unter!<br />
Seine Jünger zogen aus und schockierten. Täglich wurde<br />
in den Medien von Klüngeln berichtet, die Häuserblocks in<br />
Brand gesetzt oder den Drogenmarkt einer Stadt an sich gerissen<br />
hatten. Stets hinterließen sie das Zeichen des Rabens<br />
an Häuserwänden – das Zeichen der Getrellschen Apokalyptiker.<br />
Der von dem Prediger gepflanzte Baum des Chaos<br />
trieb bunte Blüten, manche giftig, manche heilsam. Denn es<br />
gab auch friedfertige Ableger: Vergeistigte Menschen, die sich<br />
enttäuscht von den Buchreligionen abgewendet hatten und in<br />
Getrells mystischem Tarot inneren Halt fanden.<br />
Dann verschwand der Televangelist. Kurz vor dem Eshaton<br />
hatte er seine Jünger im Stich gelassen. Obwohl er angeblich<br />
mehrfach gesehen wurde, gibt es keine vertrauenswürdigen<br />
Berichte darüber in den Archiven der Chronisten.<br />
Der Kult, den er <strong>mit</strong> seinen Fernsehauftritten geschaffen<br />
hatte, wollte nicht sterben. Gerade vor dem Untergang war<br />
er vielen Menschen ein Ventil: Wie Tiere ergingen sie sich an<br />
öffentlichem Eigentum – und anderen Menschen. In<strong>mit</strong>ten all<br />
der Unruhen und bereits von Zerfallserscheinungen geplagt,<br />
gelang es der Polizei nicht, die Apokalyptiker in den Griff<br />
zu bekommen. Schon damals müssen die Anhänger Getrells<br />
sich zu einer riesigen Gang formiert haben. Ein Alptraum für<br />
jeden Schlipsträger, der ihr über den Weg lief. Die Neohippies<br />
und Transzendenten, die gesamte vom getrellschen Fieber infizierte<br />
Esoterik-Szene, sie wurde gnadenlos niedergeknüppelt,<br />
als sie ihre entfesselten Brüder und Schwestern zum Frieden<br />
bekehren wollte.<br />
D I E J A H R E D A N A C H<br />
Selbst Jahrzehnte nach dem Eshaton weckten die Apokalyptiker<br />
noch die Bestie im Menschen und trieben die Welt in das<br />
Zeitalter des Tieres – <strong>mit</strong> Stöcken, Steinen und automatischen<br />
Waffen. Die Freiheit, alles zu tun, stand noch immer an erster<br />
Stelle, und so<strong>mit</strong> auch über der Freiheit jedes anderen. Erst<br />
Jahrhunderte später kühlte der Mob ab; die Eruptionen der<br />
Gewalt verhärteten zu zähfließenden Lavaströmen, die durch<br />
alte Becken drängten. Andere Gruppen gewannen an Macht<br />
und ließen die Apokalyptiker zusammenrücken.<br />
Die ganze Zeit über hatte das Tarot die Entscheidungen<br />
der Apokalyptiker beeinflusst. Planten sie einen Raubzug, so<br />
holten sie sich Rat beim Kartendeuter; drohte ein Konflikt<br />
zwischen zwei Apokalyptiker-Familien zu eskalieren, schlichtete<br />
die unbestechliche Weisheit des Tarots. Die Karten traten<br />
an die Stelle jeglicher Götter, ihre Deuter schwangen sich zu<br />
den Anführern der Sippen auf. Die Grenze zwischen den Anarchisten<br />
der Apokalyptiker und der Mystikerfront verwischte<br />
vollends.<br />
L E B E N U M J E D E N P R E I S<br />
„Lebe, als gäbe es kein Morgen“ ist das verinnerlichte Prinzip<br />
des Kults. Jede Emotion ist den Apokalyptikern so kostbar wie<br />
ein Meer aus Diamanten. Sei es Liebe, Hass, Gewalt, Fieber,<br />
Burnrausch, Sex oder der Wind in den Haaren, wenn man<br />
<strong>mit</strong> seinem Motorrad über die Steppe donnert – alles wird<br />
aufgesogen und in seinen Extremen zelebriert. Der Wille den<br />
Körper auszureizen, ihm alles abzuverlangen, macht die Apokalyptiker<br />
zu übermütigen Gestalten ohne Furcht. Und Furcht<br />
ist stets auf die Zukunft gerichtet: Wird die Nahrung reichen,<br />
um über den Winter zu kommen? Hat mein Handeln Konse-<br />
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