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Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis

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Streifen. Sie kamen an Operationssälen vorbei, ignorierten<br />

die Generatorräume und die Vorhaltekammern – je weiter sie<br />

vorstießen, umso deutlicher wurde ihr Ziel: Die Wartehallen.<br />

Selbst das Schauspiel Zehntausender liegender Glaszylinder in<br />

einem Wust an Kabeln und Riffelschläuchen ließ sie nicht einen<br />

Moment innehalten. Sie schwärmten aus und hämmerten <strong>mit</strong><br />

der Faust auf die rot blinkenden Schalter an den Zylindern. Es<br />

zischte, als die Verriegelungen der Schlafkammern aufsprangen.<br />

Eiskalter Nebel wallte auf den Boden. Die Gesandten<br />

fröstelten nicht. Sie warteten nur. Die Glaszylinder öffneten<br />

sich. Sie waren zweigeteilt, und die obere Hälfte klappte auf.<br />

In ihnen lagen Frauen, Männer, Kinder. Sie sahen krank aus,<br />

und sie schliefen. Sie aus ihrem künstlichen Koma zu wecken<br />

hatte man für kontraproduktiv erachtet. All das Geschrei und<br />

die Fragen – sie hätten das behindert, was jetzt kommen sollte.<br />

Die Wartenden griffen sich die Schlafenden und schulterten<br />

sie. Dann hallten ihre Stiefel im Gleichschritt durch das Tunnelsystem,<br />

denn sie marschierten wieder. In die Lagerhallen.<br />

Endlose Säulenhallen, leer, das Ende kaum <strong>mit</strong> dem Auge auszumachen.<br />

Aber schon Tage später stapelten sich hier Körper.<br />

Dann schnappten die Schlösser zu, versiegelten die Hallen für<br />

die Ewigkeit. <strong>Das</strong> Erwachen der Eingeschlossenen blieb unbemerkt<br />

– und ungesühnt.<br />

I N D A S D U N K E L<br />

Die schönen Menschen standen Spalier, als die Auserwählten<br />

in Panzerwagen vorfuhren und in die so genannten Dispenser<br />

hinab stiegen. Alle Spuren der vorangegangenen Säuberung<br />

waren getilgt, die Gänge erstrahlen in hellstem Weiß. So weiß<br />

wie das Lächeln der Täter.<br />

Die Auserwählten waren auf den ersten Blick gewöhnliche<br />

Menschen, nur eine Tätowierung auf dem Handrücken unterschied<br />

sie von den anderen Anwesenden: Eine Zahl, ein<br />

Vielfaches von 100; da waren 100er und 200er und 300er – es<br />

ging hinauf bis zu den 1000ern. Kittelträger warteten bereits<br />

an den Glaszylindern, stocherten <strong>mit</strong> blinkenden Stiften in der<br />

Elektronik herum. Alle waren angespannt; das Gefühl, bei etwas<br />

Großem dabei zu sein, war allgegenwärtig. Eine feierliche<br />

Stimmung, wie Weihnachten. Die Geschenke: Überleben.<br />

Zehn Tage später waren aus den Auserwählten Schläfer<br />

geworden. In den Glaszylindern eingeschlossen blickten ihre<br />

Augen starr durch kristalline Nanitenmasse. Grün leuchtende<br />

LCD-Anzeigen bestätigten die Cryostase. Dann gingen<br />

die Lichter aus, Türen schlossen sich. Schwere Stahlschotts<br />

rasteten in ihren Verankerungen ein. Der Countdown hatte<br />

begonnen. 100 Jahre bis zum ersten Ausstoß.<br />

Außerhalb der inneren Kammern arbeiteten die schönen<br />

Menschen. Sie warteten die Vorhaltesysteme und die Bioreaktoren,<br />

beobachteten den Datenstrom aus dem Kern der<br />

Anlage – den Schläferkammern. Aus ihnen waren Wächter<br />

geworden. Die Schläfer <strong>mit</strong> ihrem Leben zu schützen bedeutete<br />

ihnen alles. <strong>Das</strong> war ihnen in den langen Sitzungen <strong>mit</strong> den<br />

Recombination Group-Instruktoren eingebläut worden, bis sie<br />

es selbst glaubten. Der Dank: Überleben.<br />

A U S F A L L E R S C H E I N U N G E N<br />

Keine dreißig Jahre später waren die meisten der Bunkeranlagen<br />

entgegen des vorgegebenen Plans bereits aufgebrochen<br />

und verlassen. Die bedrängende Enge und die abgestandene<br />

Luft hatten die Wächter vor eine Probe gestellt, der sie nicht<br />

gewachsen waren. Die tonnenschweren Schotts konnten sie<br />

nicht aufhalten. Draußen im Ödland wagten sie ein neues<br />

Leben, schüttelten die Gehirnwäsche der Instruktoren ab und<br />

verschmolzen <strong>mit</strong> der überlebenden Bevölkerung.<br />

Doch einige harrten aus. Jahr um Jahr würgten sie sich<br />

die schleimige Brühe aus den Algentanks herunter, tranken<br />

Wasser, das schon den Weg durch tausende Körper in die<br />

Filtrieranlagen zurückgelegt hatte. Als die Tageslichtstrahler,<br />

Xenon-Röhren und Glühbirnen schließlich ausgebrannt<br />

waren, umfing sie ewige Dämmerung. Die letzten Tage des<br />

Lichts, Schilderungen der einsetzenden Hilflosigkeit, aber<br />

auch die gelebte Verbissenheit wurden über die Generationen<br />

hinweg weitergegeben. Nach Jahrhunderten war der Tag X zu<br />

einem mystischen Moment verklärt worden: Nicht die Wächter<br />

entschieden sich für die Dunkelheit, die Dunkelheit wählte<br />

die Wächter.<br />

<strong>Das</strong> Leben in der Finsternis der Tunnelsysteme, nur durchbrochen<br />

von wenigen Inseln des Lichts – blassen LCD-Anzeigen<br />

an Bunkeraggregaten –, forderte seinen Tribut: Die<br />

Wächter litten an Mangelerscheinungen, von Generation<br />

zu Generation wurden sie blasser. <strong>Das</strong> Sehen rückte in den<br />

Hintergrund, andere Sinne wie das Hören oder das Fühlen<br />

übernahmen die Führung. Jemand <strong>mit</strong> einer wohlklingenden<br />

Stimme galt mehr als jemand, der kräftig gebaut war. <strong>Das</strong><br />

durch die Dunkelheit hallende Geschrei von Kindern war<br />

befreiend und gab dem Nichts eine Dimension, an die man<br />

sich klammern konnte. Die Wächter sangen, um die Finsternis<br />

nicht an ihr Herz zu lassen.<br />

W I S S E N<br />

Während all der Jahre in der Abgeschiedenheit ihrer Bunker<br />

vergaßen die Wächter nie den Grund ihres <strong>Das</strong>eins. Unverrückbare<br />

Stahlschotts, auf denen das Emblem der Recombination<br />

Group prangte, verweigerten ihnen den Zutritt in die<br />

geheimen Tiefen der Anlage. Diese Zugänge galt es zu bewachen,<br />

so gaben es die Eltern an ihre Kinder weiter. Doch was<br />

lag hinter dieser unpassierbaren Grenze? Der Bildungsstand<br />

der Eingeschlossenen unterschied sich von Dispenser zu Dispenser.<br />

Kulturell Degenerierte, die Erfüllung in Ritualen und<br />

Aberglauben gefunden hatten, glaubten Götter oder Dämonen<br />

hinter den Schotts verborgen – die Götter würden auferstehen<br />

und unter den Wächtern wandeln, wenn die Zeit gekommen<br />

wäre, während die Dämonen in ihrem Gefängnis bis in alle<br />

Ewigkeit gefangen zu halten waren.<br />

Nur wenige Bunker-Gemeinschaften auf balkhanischem<br />

Gebiet erhielten sich das Wissen ihrer Vorfahren. Sie kopierten<br />

es auf Papier, als die Maschinen ausfielen und ritzten es in die<br />

Wände, als auch die letzten Lampen ausgebrannt waren. Die<br />

Dunkelheit nahm ihnen die Sicht und reduzierte sie auf den<br />

Hör- und Tastsinn, doch sie konnte sie nicht ihrer Vergangenheit<br />

berauben. Wer <strong>mit</strong> den Fingern über die Wände strich und<br />

die Kunstwerke des Wissens ertastete, erlebte die letzten Tage<br />

in Helligkeit, erfuhr die Doktrin der Recombination Group<br />

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