Das vollständige Grundregelwerk mit satten 380 Seiten! - Degenesis
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ar endloser Korridore, waren vor Äonen in den Stein gehauen<br />
worden. Öllampen hingen von den niedrigen Decken, waren<br />
Inseln des Lichts in<strong>mit</strong>ten absoluter Finsternis. Männer und<br />
Frauen in schmucklosen Leinengewändern huschten durch<br />
die Gänge, wurden umweht vom Atem der Vergangenheit.<br />
Jeden Tag entdeckten sie neue Abzweigungen, befreiten jeden<br />
Tag neue Runenketten vom Staub der Jahrtausende. Über den<br />
Korridoren klafften große Hallen im Gestein. In Tonkrügen<br />
versiegeltes Wissen der Alten fand sich hier, herangeschafft<br />
aus den Krypten ganz Anubiens. Uralte Technik kauerte wie<br />
riesenhafte Käfer in den Ecken; tot, aber bedrohlich. Nicht<br />
einmal die Hohepriester wussten, wie diese Maschinen aus<br />
Stein und Messing funktionierten und was sie einst taten. Verschlossene<br />
Kammern warteten überall.<br />
Von all dem wusste die junge Anubierin nichts. Vom sengenden<br />
Tageslicht bis hinab zu den tiefen Tempeln war es<br />
noch ein weiter Weg. Ein Weg, der in einem Lebenszyklus<br />
kaum zu meistern war – vor allem, da seine Stationen im<br />
Dunkeln lagen.<br />
V O R Z E I T<br />
Es war Nacht über der Stadt der Toten. Die Hitze des Tages<br />
würde schon bald aus dem Sand gewichen sein. Wind kam auf,<br />
trieb den Sand in feinen Schleiern zwischen den steinernen<br />
Grabmälern hindurch. Eine Gestalt schritt wachsam durch die<br />
Nekropole. Sie war kein Mensch, denn sie hatte den Kopf eines<br />
Schakals. Schwarz war er, dunkler als die Nacht <strong>mit</strong> Augen<br />
wie Sternen. Anubis.<br />
Mit Händen so feingliedrig wie Spinnenbeine wob er ein<br />
Netz in der Luft, klebte es an verfallene Obelisken und Treppenabgänge.<br />
Seelen <strong>mit</strong> Schwingen aus Gold verfingen sich in<br />
ihm, und Anubis erntete sie. Dann schickte er sie hinab zu<br />
Osiris, wo sie beurteilt werden würden. Doch manche Seele<br />
entglitt seinem Griff – zu fremd war sie ihm.<br />
Er hatte dem Menschen einst das Ka eingepflanzt. Über Generationen<br />
wurde es von der Mutter an die Kinder weitergegeben.<br />
Doch das Ba schlich sich wie Fäule in die menschlichen<br />
Seelen und vergiftete sie. <strong>Das</strong> Ka wurde schwächer in ihnen.<br />
Jeden Zyklus drängte das Ba über die Erde, und es wurde<br />
schlimmer und schlimmer. Anubis verlor eine Seele nach der<br />
anderen.<br />
Nur ein Stamm, in den Anubis bei Anbeginn der Welt den<br />
Lebensstrang hineingeschrieben hatte, bewahrte das Ka in<br />
Ehren. Es waren die Anubier. <strong>Das</strong> erste Volk. Anubis hatte<br />
ihnen einst das Schicksal der Welt offenbart, jetzt nahm er<br />
sie in die Pflicht, um zu beenden, was ewig währte. Doch wie<br />
auch Silber an der Luft stumpf und dunkel wird, hatte die Zeit<br />
die Reinheit der Anubier getrübt. Nur die Uralten hatten die<br />
Macht, außerhalb des Zyklus die Quelle des Bas zu vernichten.<br />
Vor langer Zeit im Wüstensand begraben, gierten sie nach<br />
ihrer Erweckung. Und ihre Nachfahren, die neuen Anubier,<br />
machten sich auf die Suche.<br />
G E S C H R I E B E N E<br />
G E S C H I C H T E<br />
Unzugänglich sind die Höhlen der anubischen Wüste, die einst<br />
den Uralten als Zuflucht dienten. Verborgen in der ewigen<br />
Nacht der Gangsysteme überdauerte dort die Geschichte der<br />
Anubier auf Schriftrollen in versiegelten Tonkrügen. Nach<br />
und nach werden die Behältnisse jetzt geborgen und von den<br />
Priestern aufgebrochen. Vorsichtig gehen sie vor, um keines<br />
der vergessen geglaubten Geheimnisse endgültig zu verlieren.<br />
Und der Schleier der Vergangenheit hebt sich, hebt sich von<br />
der anubischen Wüste, offenbart die wahre Geschichte eines<br />
der ältesten Kulte der Welt:<br />
Als Gelehrte und Forscher traten sie bereits im alten Ägypten<br />
auf – als Hochkultur zwischen barbarischen Stämmen. Die<br />
ersten Pharaonen, die das Land am Nil beschritten, sollten sie<br />
schließlich nach Kerma in das Königreich Kusch verbannen.<br />
Doch vergessen konnte man sie nicht. Denn das Volk der<br />
Ägypter war fasziniert von den opulenten Bilderschriften und<br />
dem Totenkult der Anubier, und so übernahmen sie vieles,<br />
wie auch vieles verfälscht wurde: Ihren Verstorbenen rissen<br />
sie die Organe aus dem Leib und mumifizierten die leere<br />
Hüllen ohne Sinn und Verstand, errichteten dann megalomane<br />
Bauwerke über ihnen. Die Anubier jener Zeit bedauerten ihre<br />
unwissenden Brüder und Schwestern, doch aufklären wollten<br />
sie sie nicht.<br />
Ägypten gedieh, und die Anubier verkümmerten. Als das<br />
unter der 18. Dynastie wiedervereinigte Ägypten das Nubische<br />
Reich zerschlug, flohen sie, tauchten aber noch einmal im zweiten<br />
Königreich von Kusch auf. Schließlich verschwanden sie.<br />
D E R E W I G E L A U F<br />
Konzentrische Kreise breiten sich auf der stillen Wasserfläche<br />
aus, lässt man einen Stein hineinfallen. Wellenkämme streben<br />
nach außen, verlieren dabei an Kraft. <strong>Das</strong> Leben entstand den<br />
Mythen der Anubier nach im endlosen Wasser der Meere, in<br />
Schwingung versetzt durch Anubis. Noch heute schmücken<br />
sich die Anubier <strong>mit</strong> Kreisen auf Leib und Gewand und sagen<br />
da<strong>mit</strong>: Wir sind Anubis Kinder!<br />
Einst gab es nur diese eine Welle, durch Anubis‘ sanfte<br />
Berührung in die Realität entlassen. Leben und Tod – Anfang<br />
und Ende der Welle, waren seine Schöpfung. Doch er war<br />
nicht alleine. Dort waren andere, und wie Regen prasselte es<br />
auf die ruhigen Wasser. Seine Welle stemmte sich durch das<br />
aufgewühlte Meer, doch ihre brillante, ebenmäßige Schönheit<br />
zerbrach in Millionen funkelnde Tropfen. Auf und ab hüpften<br />
sie, stießen neue Wellen an: Die Realität wurde kompliziert und<br />
verzweigte mehrfach auf ihrem Weg vom Leben in den Tod.<br />
Stetes Tropfen fing vieles in ewigen Zyklen: Die Jahreszeiten,<br />
die Menstruation der Frau, der Tag- und Nachtwechsel. Sie<br />
wiederholten sich und veränderten die Welt, lenkten sie von<br />
ihrer Urform weg ins Chaos.<br />
Die Anubier mussten sich erheben, von der Welle lösen und<br />
von den Zyklen befreien – sie mussten wie Anubis sein, um<br />
ihn in seinem Drang nach Perfektion zu unterstützen. Er hatte<br />
ihnen den Schlüssel vor langer Zeit eingeschrieben, jetzt mussten<br />
sie diesen Lebensstrang perfektionieren und werden wie<br />
er: Aus einer sterblichen Rasse sollte eine unsterbliche Spezies<br />
zwischen Leben und Tod werden.<br />
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