Aus allen Quellen trinken - Gemeinsam unter einem Dach e.v.
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Ein weiterer Aspekt, der außer den zuvor beschriebenen Faktoren bezüglich der sehr langen<br />
Arbeitszeiten und damit der ständigen Abwesenheit der Eltern eine Rolle spielen könnte, ist<br />
die generelle Einstellung der vietnamesischen Migranten zur Arbeit, die teilweise mit dem<br />
bereits erwähnten Gedanken des ‚Opferns für die Bildung der Kinder’ in <strong>einem</strong> Atemzug<br />
genannt wird. 521 Eine Gesprächspartnerin scheint diese Arbeitseinstellung allerdings in <strong>einem</strong><br />
etwas anderen Licht zu sehen: „Man muss arbeiten, um die Familie zu ernähren, zu Reichtum<br />
zu führen und so weiter. […] Geld zu erwerben rechtfertigt fast alles. […] Also, da gibt es<br />
auch einen gewissen Moralverfall.“ 522 Keineswegs könnten die durch das <strong>Aus</strong>länderrecht<br />
entstehenden Härten vor allem bei der Familienzusammenführung und die anderen bereits<br />
beschriebenen Aspekte als „Entschuldigung“ 523 für die pausenlose Arbeit der Eltern dienen.<br />
Der interessanten Theorie eines Gesprächspartners zufolge ist der oben genannte<br />
„Moralverfall“ der ehemaligen Vertragsarbeiter in den neuen Bundesländern eng mit den<br />
historischen Bedingungen Vietnams und denen der Arbeitskräftekooperation verbunden.<br />
Junge Südvietnamesen, die in viel geringerem Umfang als Vertragsarbeiter in die DDR<br />
kamen als ihre Landsleute aus dem Norden, 524 hätten nach der Vereinigung des Landes 1975<br />
bezüglich ihrer Bildungs- und Karrierechancen <strong>unter</strong> starken Benachteiligungen durch das<br />
sozialistische Regime zu leiden gehabt, da sie in der Regel aus Familien ohne Parteibuch<br />
stammten. Sie mussten strengeren Kriterien genügen, um zum Hochschulstudium zugelassen<br />
zu werden und wurden offenbar wesentlich häufiger zum Militärdienst im Rahmen des<br />
Konflikts mit Kambodscha 525 eingezogen als Nordvietnamesen. Deshalb hätten sie den<br />
Arbeitsaufenthalt in der DDR oft als Chance begriffen, in den Genuss einer <strong>Aus</strong>bildung zu<br />
kommen, die ihnen als Südvietnamesen in Vietnam verwehrt geblieben wäre. Offenbar<br />
ebneten vor allem Beziehungen und Geld den Weg dieser jungen Leute in die DDR. Die<br />
Motivation der meisten Nordvietnamesen jedoch sei anders gewesen, selbst wenn <strong>unter</strong> ihnen<br />
auch Intellektuelle waren:<br />
„ […] die meisten nordvietnamesischen Vertragsarbeiter sind hergekommen, weil sie … Bonuspunkte bei der<br />
Regierung gemacht haben oder sich dann eben die Stelle erkauft haben. […] und dann haben sie hier schon sehr<br />
gut diese Ellenbogengesellschaft […] aus Vietnam schon mitgebracht. Sie sagten [sich, C.B.] […]: ‚Na ja, durch<br />
Beziehungen, durch Funktionen, durch die Partei kann ich doch viel mehr weiter kommen als durch blödes<br />
Lernen.’ Und so lebten sie es hier weiter und sagten [sich, C.B.]: ‚ […] ich muss nur gute Beziehungen aufbauen<br />
zu Parteigenossen, und lernen brauch ich da nicht.’ […] da war schon die Einstellung: ‚Ich komm in die DDR,<br />
521 Vgl. Interviews 5, 7.<br />
522 Vgl. Interview 1.<br />
523 Telefonat mit Frau Hentschel am 09.12.2004.<br />
524 Vgl. Baumann 2000: 43, Krüger 1999: 23.<br />
525 1978: Vietnamesische Truppen marschieren nach Grenzzwischenfällen in Kambodscha ein.<br />
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