Ein Winter in Spanien Zweiter Band - Friedrich Wilhelm Hackländer
Ein Winter in Spanien Zweiter Band - Friedrich Wilhelm Hackländer
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120 HACKLÄNDER: EIN WINTER IN SPANIEN<br />
vorbeigeschritten ist, hebt den schweren Vorhang an der Kirchenthür <strong>in</strong><br />
die Höhe, e<strong>in</strong> gewaltiger Strom des scharf glänzenden hellen Tageslichtes<br />
dr<strong>in</strong>gt plötzlich here<strong>in</strong>, beleuchtet das reiche Schnitzwerk der Thür,<br />
deren Figuren aus der biblischen Geschichte Centauren, Liebesgötter,<br />
Laubgew<strong>in</strong>de und Arabesken umgeben, sowie auch die schweren Formen<br />
zweier Weihwasserbecken dicht neben uns. Und dieses Licht, welches<br />
here<strong>in</strong>blitzt, läßt die Kirchenschiffe noch ernster und dunkler, ja,<br />
fast unheimlich ersche<strong>in</strong>en.<br />
Gern verlassen wir die Kathedrale und erfreuen uns draußen an der<br />
Tageshelle, an dem goldenen Sonnenstrahle, der sich an den schlanken<br />
Pfeilern des Kreuzganges herumw<strong>in</strong>det, der an den durchbrochenen<br />
Fenstern hier glänzende Lichter aufsetzt, und gleich nebenan tiefe<br />
Schatten hervorruft. Doch, nachdem wir uns lange <strong>in</strong> den dunkeln Räumen<br />
der Kirche aufgehalten, steigen wir gern auf den Thurm h<strong>in</strong>auf, um<br />
e<strong>in</strong>en Blick auf Toledo und die umliegende Landschaft zu thun.<br />
Dieser Thurm hat drei Theile, und se<strong>in</strong>e Breite läßt ihn weniger hoch<br />
ersche<strong>in</strong>en, als er wirklich ist. Der untere Theil ist e<strong>in</strong> Prisma mit viereckiger<br />
Basis, von Strebepfeilern an den Ecken flankirt und die glatten<br />
Flächen ganz mit gothischem Maßwerk überdeckt; oben führt e<strong>in</strong> reich<br />
durchbrochenes Ste<strong>in</strong>geländer um die Terrasse, aus der sich der zweite<br />
Theil mit achteckiger Basis erhebt, welcher <strong>in</strong> zwei Stockwerke mit je<br />
acht reichgegliederten Spitzbogenöffnungen zerfällt, und um den sich<br />
e<strong>in</strong>e Menge Fialen und Spitzsäulen gruppiren. Früher mag sich dieser<br />
Theil weit zierlicher ausgenommen haben; denn die Durchsichtigkeit<br />
hat sehr abgenommen durch e<strong>in</strong>e Masse nachher angebrachter Verstärkungspfeiler,<br />
die, wo nur Raum war, h<strong>in</strong>ter den freistehenden Streben<br />
aufgeführt wurden. Die Pyramide zu oberst, die den dritten Theil bildet<br />
und sich schnell verjüngt, hat e<strong>in</strong>e eigenthümliche Zierde durch drei<br />
Gürtel von wagerecht <strong>in</strong> die Luft starrenden Spitzen erhalten, die, an<br />
und für sich von beträchtlicher Größe, ganz die Wirkung e<strong>in</strong>er dreifachen<br />
mächtigen Krone machen. Der ganze Thurm, von der Sohle bis<br />
zum Kreuze, hat e<strong>in</strong>e Höhe von dreihundert dreißig Fuß. Die Treppen,<br />
welche h<strong>in</strong>auf führen, s<strong>in</strong>d sehr bequem, und man gelangt ohne große<br />
Mühe bis an den durchbrochenen Theil des Thurmes, wo die schon erwähnte<br />
berühmte Glocke von Toledo hängt. Allerd<strong>in</strong>gs hat diese e<strong>in</strong>e<br />
KAPITEL 15. TOLEDO. 121<br />
anständige Größe, doch glaube ich, daß das Sprüchwort übertrieben ist,<br />
nach welchem unter der Campana fünfzehn Schuster im Kreise nicht<br />
nur sitzen können, sondern mit langgezogenem Zwirn frischweg nähen,<br />
ohne daß e<strong>in</strong>er den andern genire.<br />
Von hier oben hat man e<strong>in</strong>e schöne Aussicht auf die Stadt. Toledo<br />
liegt r<strong>in</strong>gs um uns ausgebreitet und sieht noch von hier oben besonders<br />
ehrwürdig aus. Es ist e<strong>in</strong> stattlicher Ste<strong>in</strong>haufe <strong>in</strong> grauer und gelblicher<br />
Farbe, und wenn man den Umfang bettachtet, so begreift man wohl,<br />
daß Toledo statt der 15,000 Menschen, die jetzt hier leben, früher e<strong>in</strong>e<br />
vier- bis sechsfache Zahl beherbergen konnte. Eigenthümlich ist der Anblick<br />
auf die Dächer und Terrassen; vielfach sieht man auf den letzteren<br />
noch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Aufbau von Säulen und Bogenfenstern, durch welche<br />
man den frischen Luftstrom genießen und weit h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> das Land<br />
lugen konnte. Diese Aufbauten nehmen sich auf den grauen Mauern<br />
wie e<strong>in</strong>e eigene Stadt auf den Dächern aus. Auch mehrfache Überbleibsel<br />
aus der Maurenzeit entdeckt man hier oben, und kle<strong>in</strong>e Kuppeln, die<br />
sich, von unten gesehen, sche<strong>in</strong>bar ängstlich zwischen den hohen trotzigen<br />
christlichen Thürmen verbergen, treten hier frei zu Tage; überhaupt<br />
entdeckt man von der Gallerie des Thurmes e<strong>in</strong>e Menge hervorragender<br />
Bauwerke, die <strong>in</strong> dem Labyr<strong>in</strong>th der engen Gassen verschw<strong>in</strong>den.<br />
<strong>E<strong>in</strong></strong>er der Geistlichen der Kirche, e<strong>in</strong> freundlicher alter Mann, der zu<br />
unserem Glücke geläufig Französisch sprach, hatte uns h<strong>in</strong>aufbegleitet,<br />
und nannte uns gern e<strong>in</strong>zelne hervorragende Punkte der Stadt. Ziemlich<br />
deutlich sahen wir auch von hier, wie der Tajo dieselbe auf drei<br />
Viertheilen ihres Umfanges umkreist; weit über die öde Fläche daher,<br />
welche wir gestern geritten, schlängelt er sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em grünen Streifen,<br />
wie e<strong>in</strong>e langgezogene Oase <strong>in</strong> der Wüste, und bricht sich dicht vor der<br />
Stadt e<strong>in</strong>en Weg durch gewaltige Granitmassen, statt, wie er wohl gekonnt<br />
hätte, quer über die Sandebene gemächlich weiter zu laufen, – –<br />
e<strong>in</strong> schönes Bild jener alten echten Ritterlichkeit, die auch Kampf und<br />
Tod aufsuchte und sich den entgegentretenden H<strong>in</strong>dernissen frisch und<br />
muthig entgegenwarf.<br />
Vor uns, entlegen vom Felsenufer des Flusses, sehen wir e<strong>in</strong>en mächtigen<br />
Bau aus dem sechszehnten Jahrhundert, das Thor von Bisagra. Auf<br />
der anderen Seite der Stadt bef<strong>in</strong>det sich die St.-Mart<strong>in</strong>sbrücke, und der-