NATION UND SPRACHE
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Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />
Aber auch Walter Benjamin und Ortega y Gasset [ORTEGA Y GASSET 1957] teilen diesen<br />
Standpunkt. Ihrer Meinung nach darf die Übersetzung keineswegs für ein Original gehalten<br />
werden, der Ausgangstext als Zeugnis einer fremden Sprache und Kultur muß beständig durchscheinen,<br />
auch wenn der Übersetzer dies nur erreicht, indem er seiner Muttersprache (Zielsprache)<br />
Gewalt antut, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers<br />
fordert:<br />
Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax, und gerade sie erweist das Wort,<br />
nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des<br />
Originals, Wörtlichkeit die Arkade. [nach STÖRIG 1969, 166]<br />
Ortega geht noch weiter, indem er der Übersetzung jeden Anspruch auf Schönheit abspricht,<br />
denn sie soll kein Kunstwerk, sondern bloß ein Hilfsmittel zu Erkenntniszwecken sein.<br />
Zu einer ähnlichen Überzeugung gelangt auch Antoine Berman in seinem Essay La traduction<br />
et la lettre:<br />
Dans son domaine, le traducteur est possédé de l'esprit de fidélité et d'exactitude. C'est là sa passion,<br />
et c'est une passion étique, non pas littéraire ou esthétique. [BERMAN 1985, 87]<br />
Die entgegengesetzte Ansicht vertrat der Bibelübersetzer Martin Luther, der es sich leistete,<br />
mit dem "heiligen Wort" frei umzuspringen, dem Leitspruch "rem tene, verba sequuntur" folgend.<br />
Das wohl bekannteste Beispiel, mit dessen Hilfe er seine Entscheidung für die freie Übersetzung<br />
im Sendbrief vom Dolmetschen aus dem Jahre 1530 rechtfertigt, ist die Übertragung<br />
von "Ex abundántia cordis os lóquitur" [Matth. 12, 34] nicht mit dem wörtlichen "Aus dem<br />
Überfluß des Herzens redet der Mund", sondern mit dem deutsch klingenden "Wes das Herz voll<br />
ist, des gehet der Mund über", denn "so redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann"<br />
[nach STÖRIG 1969, 21-22], für die seine Übersetzung gedacht ist.<br />
Es ist dies wohl das bekannteste Beispiel einer zielsprachlich orientierten Übertragung in<br />
die deutsche Sprache und ist besonders auffällig, weil die Bibelübersetzer bis dahin sich noch<br />
am strengsten an den Wortlaut hielten, nach dem Ausspruch Hieronymus’, des Autors der als<br />
Vulgata bekannten Bibelübertragung: “verborum ordo mysterium est”.<br />
Solch kategorische Standpunkte sind heutzutage die Ausnahme, der literarische Übersetzer<br />
ist meist darum bemüht, einen goldenen Mittelweg zu finden, der trotz zahlreicher Theoretisierungen<br />
auf diesem Gebiet, wegen der Mannigfaltigkeit der an ihn herantretenden Probleme<br />
doch oft ein persönlicher Entscheidungsprozeß bleibt, wie Ellen Elias-Bursac so treffend formuliert:<br />
Translation is a continual balancing act, an ongoing compromise between the voice of the original<br />
author and the voice of the translator, between the cultural framework of the original work and the<br />
translator's audience. [ELIAS-BURSAC 1988, 97]<br />
Im weiteren weist die Autorin auf die Gefahren sowohl der wörtlichen Übersetzung ("lack of<br />
spontaneity"), als auch auf jene einer zu freien Übersetzung hin ("it strays so far from the original<br />
that it can no longer be attributed to its author").<br />
Allgemein kann für die literarische Übersetzung die von Newmark stammende Maxime gelten:<br />
"Translate as Literally as Possible and as Freely as Necessary" [NEWMARK 1982], die leider<br />
durch ihre vage Formulierung die Entscheidung darüber, was nun möglich, bzw. notwendig ist,<br />
dem Gutdünken des Einzelnen überläßt.<br />
Konkretere Hinweise darüber, wie wörtlich oder wie frei übersetzt werden sollte, bietet Katharina<br />
Reiß. In ihrem Bestreben, erstmals objektive Kriterien zu einer Übersetzungskritik zu<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
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