NATION UND SPRACHE
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Gundula-Ulrike Fleischer<br />
erstellen, unterscheidet sie auf der Skala ausgangstextorientierte - zieltextorientierte literarische<br />
Übersetzung unterschiedlichen Zwecken dienende Kategorien, wie Rohübersetzungen,<br />
Schul- und Studienausgaben, die "gelehrte" Übersetzung usw., wovon jede ihren Zielsetzungen<br />
entsprechenden Anforderungen zu genügen hat, die dann auch von der Übersetzungskritik in<br />
betracht gezogen werden müssen. [REISS 1986]<br />
Die Berücksichtigung des Zwecks, dem die Übersetzung dienen soll, bei der Wahl der Übersetzerposition,<br />
bzw. bei der Bewertung einer Übersetzung, wie sie heutzutage die Skopostheorie<br />
fordert, ist so neu nicht. Bereits Goethe verwendete die Zweckentsprechung als Kriterium seines<br />
Systematisierungsversuchs der Übertragungen:<br />
Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserem eigenen Sinne mit dem Auslande<br />
bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste.[...] Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo<br />
man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich<br />
anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich mit reinstem<br />
Wortverstand die parodistische nennen.[...] Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen<br />
lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen<br />
muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige<br />
nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt<br />
des andern, sondern an der Stelle des andern gelten soll. Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand;<br />
denn der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, gibt mehr oder weniger die<br />
Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst<br />
heranbilden muß. [GOETHE II, 255-256]<br />
Für die erste Art der Übertragung steht Luthers Bibelübersetzung, für die zweite die von<br />
Wieland oder den Franzosen gepflegte, freie Übersetzung, für die dritte hingegen Voß und die<br />
treuen Übersetzer Ariosts, Tassos, Shakespeares und Calderons, die Goethe durch seine Hierarchisierung<br />
zu weiteren treuen Übertragungen aus der Weltliteratur ermutigt. Es stellt sich die<br />
Frage, inwieweit der Begriff der treuen Übersetzung sich wirklich mit jenem der wörtlichen<br />
deckt und das insbesondere auf dem Gebiet der literarischen Übersetzung, wo das Wort nicht<br />
bloßer Informationsträger ist, sondern die dem Kunstwerk eigene Realität schafft, die der Übersetzer<br />
in die Zielsprache und -kultur herüberholen muß.<br />
576<br />
In einem Aufsatz über die westeuropäische Übersetzungstradition stellt José Lambert fest:<br />
Recent theories demonstrate that the opposition literal/free is rather naïve, and that every translation<br />
has to combine norms and models from the source and from the target system, perhaps even<br />
from still other surrounding systems. [LAMBERT 1988, 129]<br />
Auch Otto Kade erkennt, daß die Alternative wörtlich-frei zu einem künstlichen Gegensatz<br />
zwischen Inhalt und Form führt, weshalb er statt dessen eine organische Vision dieser beiden<br />
empfiehlt. [KADE 1968] Indem er sich zur Veranschaulichung unter anderem einer Ballade von<br />
François Villon, einer Interlinearversion und fünf deutscher Übersetzungen bedient, plädiert<br />
Rainer Kirsch, selbst Lyriker und Nachdichter, in seinem der Lyrik-Übersetzung gewidmeten<br />
Buch Das Wort und sein Schatten für die "funktionale Nachdichtung" als die angemessene Form<br />
der Übertragung von Poesie. Das bedeutet im Klartext:<br />
Ein Verfahren kann das andere ersetzen, wenn es für die poetische Mitteilung annähernd das gleiche<br />
leistet wie das originale, die Funktion eines Verfahrens kann in der Übertragung von anderen<br />
Bauteilen des Gedichts übernommen werden. [KIRSCH 1976, 84]<br />
Die hier zitierten Einstellungen der Übersetzer und Übersetzungstheoretiker aus ganz verschiedenen<br />
Jahrhunderten zeigen, daß es bisnoch zu keiner Einigung gekommen ist, was die<br />
Übersetzerposition betrifft. Die heutige Übersetzungsforschung ist darum bemüht, den Über-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003