NATION UND SPRACHE
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Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />
unverwechselbar gehaltene Textbausteine zu neuen überstzerischen Handlungsmustern<br />
zusammnesetzen (DANIEL 1981). Zu beachten ist allerdings, daß eine solche Verhaltensweise<br />
nicht dispositionell gesteuert, sondern sprach- und text(typ)determiniert ist.<br />
Übersetzungstechniken sind zu Gewohnheitstätigkeiten (habits) verfertigte Transfermechanismen<br />
(WILSS 1988), die allerdings nur dann praktiziert werden können, wenn der<br />
Übersetzer über eine ausgeprägte interlinguale „Framekomptenz“ (WEGNER 1984) verfügt.<br />
Diese – bewußt oder unbewußt aktivierte - „Framekompetenz“ baut sich allmählich durch<br />
induktive Sammlung vereinzelter Beobachtungen zu einem verläßlichen Spurensystem auf und<br />
wird so nach dem Prinzip der „increasing-strength hypothesis“ (WICKELGREN 1979) Teil eines<br />
übersetzerischen Handlungskalküls, das prototypisches Denken und Formulieren ermöglicht.<br />
Es setzt voraus, daß es zwischen as und zs Ausdrucksinventaren strukturhafte oder strukturierbare<br />
Äquivalenzbeziehungen gibt, die der Übersetzer text(typ)spezifisch mehr oder minder<br />
unreflektiert aus seinem Gedächtnis abzurufen imsande ist (TOMMOLA 1085). Diese Überlegungen<br />
verweisen auf COSERIUs (1970) (an ARISTOTELES anknüpfende) Unterscheidung zwischen<br />
nichtkreativen Handlungen, die eine schon gegebene Dynamis bloß anwenden, und der<br />
schöpferischen Tätigkeit, die der Dynamis vorausgeht. WILSS(1988) glaubt, daß COSERIU unter<br />
der Anwendung einer schon vorgegebenen Dynamik die Entwicklung und die Konsolidierung<br />
von standardisierbaren lexikalischen, idiomatischen und syntaktischen Übersetzungsprozessen<br />
zu Übersetzungstechniken versteht, und unter kreativen Handlungen, die der Dynamik vorausgehen,<br />
eine originalitätsbestimmte Übersetzungstätigkeit, wie sie sich, vereinfacht formuliert,<br />
in allen „nichtformatierten“ Texten manifestiert. Es ist aber zu bezweifeln, daß die Anwendung<br />
einer schon vorgegebenen Dynamik als nichtkreativ zu bezeichnen wäre. Man könnte umgekehrt<br />
argumentieren und das Wissen um die vorgegebene Dynamik geradezu als<br />
Vorbedingung für eine bestimmte (sekundäre) Art übersetzerischer Kreativität betrachten, für<br />
die ALLEN (1982) den Begriff „ostinatio“ (das Erwartbare) im Gegensatz zu „capriccio“ (das<br />
Nichterwartbare) geprägt hat.<br />
Also: In übersetzerischen Handlungszusammenhängen ist die Übersetzungskreativität auf<br />
zweierlei Weise virulent: sie bringt einerseits Ordnung und Stabilität in übersetzerisches Verhalten.<br />
Das entscheidende Merlkmal dieser Art von Übersetzungskreativität ist ihre Kraft, „Regelmäßigkeit<br />
im Handeln zu stiften. Diese Kraft ist in der Gemeinschaft verankert. . . Wo diese<br />
gemeinschaftliche Verankerung fehlt, ist auch nicht mit einer sicheren Geregeltheit des Handelns<br />
durch Normen zu rechnen“ (MÜNCH 1984).<br />
Übersetzungskreativität setzt andererseits Kräfte frei, durch die sie die Dynamik des Übersetzers<br />
außerhalb einer soziotechnischen Verhaltenspragmatik mit einer kollektivistischen<br />
übersetzerischen Grundhaltung verwirklichen kann. Stabilität und Inovation widersprechen sich<br />
nicht. Sie sind komplementäre Manifestationen eines sich an den Gegebenheiten des jeweiligen<br />
Übersetzungsauftrags orientierenden Übersetzerverhaltens. Übersetzerische Routine wird ergänzt<br />
durch einen übersetzerischen „Möglichkeitssinn“, der die beklemmende Vision einer total<br />
durchrationalisierten übersetzerischen Praxis mit durchgängig praktizierten festen Denk- und<br />
Ausdrucksschemata als gegenstandslos erweist (WILSS 1988). Man kann den übersetzerischen<br />
Produktionsprozeß nicht vollumfänglich dem Prinzip der Maschinenlogik unterwerfen. Neben<br />
vorhersagbaren, typisierbaren Übersetzungsprozessen gibt es auch nicht vorhersagbare, nicht<br />
„generierbare“, gleichsam „unbefestigte“ Übersetzungsprozesse außerhalb eines „instituierten“<br />
Sprachgebrauchs mit geregeltem Erwartungshorizont (WILSS 1988). Für Übersetzen gibt es<br />
keinen operativen Blankoschek. Der Übersetzer hält sich viele Wegrichtungen offen. Sein Erfindungsreichtum<br />
ist, jedenfalls in literarischen Texten, fast unauslotbar.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
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