NATION UND SPRACHE
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Klaus Fischer<br />
+Notw +Notw<br />
-Syn -Syn<br />
(Cornelia Funke: Der Herr der Diebe, Hamburg, Cecilie Dressler Verlag 2000)<br />
Form: Formale Determinierung durch das regierende Element (Rektion)<br />
Notw: Notwendigkeit der Realisierung (im unmarkierten Fall)<br />
Syn: Synsemantik (die semantische Rolle wird vom regierenden Element<br />
bestimmt)<br />
Weder sind E alle in ihrer Form oder semantischen Rolle vom Verb determiniert, noch sind<br />
sie alle notwendig. Jacobs zog daraus den Schluss, dass Valenz lediglich ein Sammelbegriff sei:<br />
eigentlich wichtig seien die einzelnen Valenzrelationen.<br />
ad b) Lexem und Textrealisierung. Stehen hat viele miteinander verbundene Verwendungsweisen.<br />
Wieviele Bedeutungen hat es? Es ist anzunehmen, dass das Verb nur eine hat, die im<br />
Kontext erweitert oder reduziert wird. Die Bedeutung von stehen kann mit ‘in aufrechter Ruhelage<br />
verharren’ angegeben werden. Bei geografischen Angaben ist die Bedeutung auf ‘sich befinden’<br />
reduziert, die Situativergänzung obligatorisch:<br />
2 Esit: LOC<br />
Das Rathaus steht/ist am Markt.<br />
-Form<br />
+Notw<br />
-Syn<br />
Der Hörer wendet ein auf Erfahrung basierendes Schlussverfahren an, um die Textbedeutung<br />
und die ihr entsprechenden Valenzforderungen, das heißt den passenden Satzbauplan, zu ermitteln.<br />
Die Erfahrung sagt ihm, dass Gebäude nicht einmal stehen, ein andermal liegen und<br />
auch nicht den Ort wechseln können. In 2 kann es sich also nicht um das Aufrechtsein des Rathauses,<br />
das zufällig am Markt stattfindet, handeln. Gebäude können aber zusammenfallen oder,<br />
im Falle Venedigs, versinken. Entsprechend wird die Bedeutung in 1 angepasst: stehen bedeutet<br />
hier ‘in Ruhelage, intakt sein’. Das Thema Venedig verhindert in 1, dass der Leser an bewegliche<br />
Güter (Noch stand alles in der Küche) oder an Pläne denkt (Noch stand alles fest, dann wurde es<br />
wieder geändert). Noch und fest deuten auf Veränderlichkeit, d.h. auf im Prinzip vertikales<br />
Stehen hin, eben das Stehen von Gebäuden, dessen Gegenteil nicht ein Liegen, sondern ein<br />
Zusammenfallen oder hier Versinken ist. Mit dieser Textbedeutung geht eine Degradierung des<br />
Ortsbezuges einher: Aber noch stand alles. ist ein kompletter Satz. Ob die Angabe des Untergrundes<br />
als fakulative E oder als A angesehen wird, möchte ich im Moment zur Seite stellen. Auf<br />
jeden Fall liegt ein anderes Verhältnis zur Ortsbestimmung vor als in Der Campanile steht am<br />
Markusplatz. Wichtig ist die Einsicht, dass der Satzbauplan aus dem Kontext heraus konstruiert<br />
wird: Das Verb ist hinsichtlich seiner Textlesart unterdeterminiert. 2<br />
Das Verhältnis von Lexem zur Textverwendung ist Valenzpraktikern nur zu gut vertraut. Ich<br />
sehe hier vor allem eine Chance, als Valenzgrammatiker am Modellieren der Sprachverarbeitung<br />
2 Man vergleiche Marten 2002. Zur Unterspezifizierung von Äußerungen generell siehe Sperber & Wilson (1995) und<br />
Kempson et al. (2001).<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003