NATION UND SPRACHE
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Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />
Auch deswegen ist es sinnwidrig, immer und überall zu allgemeinen Regeln übersetzerischen<br />
Geschehens vorstoßen zu wollen. Praktisch kommt es darauf an, die jeweilige<br />
übersetzerische Gesamtsituation in all ihren Eigentümlichkeiten möglichst präzise zu erfassen<br />
und in der ZS durch Aktivierung aller kreativen Resourcen möglichst konturscharf und<br />
unverfälscht wiederzugeben. Die sprachlichen Rollen sind uns verordnet. Übersetzen ist eine Art<br />
sprachliches Rollenspiel. Aber gerade im Bewußtsein dieses Rollenspiels eröffnen sich dem<br />
Übersetzer Möglichkeiten und Perspektiven eines kreativen Verhaltens.<br />
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Graf Leo Tolstoi (1828-1910) ist das größte epische Naturgenie des 19. Jahrhunderts, Inbegriff<br />
russischen Wesens bis in den ungelösten Zwiespalt von Welt und Gott. Aus russischem<br />
Hochadel - auch von der Mutter her, einer Prinzessin Wolkonski - stammend, verlebte er glückliche<br />
Kinderjahre, die er so wunderbar in seiner Kindheit beschreibt. Er beherrschte die deutsche<br />
Sprache wie ein Muttersprachler, da er von klein auf diese Sprache gebrauchte. Und weil das in<br />
den adligen Familien Rußlands normal war. Auch seine Eltern waren der deutschen Sprache<br />
derart mächtig, daß sie den Geschwistern Tolstoi manchmal „verdächtig“ wurden, insbesondere<br />
wenn sie im Anlaut statt „G“ „J“gebrauchten. Das hing aber vom Erzieher ab. Graf Tolstoi und<br />
seine Geschwister sprachen aber ein „Standard-Deutsch“, weil ihr Erzieher aus einer Gegend<br />
Deutschlands kam, die die Normen der Schriftsprache durchsetzte. Alles was von Graf Tolstoi in<br />
deutscher Sprache geschrieben wurde, ist einwandfrei. Hier ein paar Beispiele aus seiner Kindheit,<br />
die das beweisen sollen:<br />
Auf, Kinder, auf. . . s'ist Zeit!<br />
Sind Sie bald fertig?<br />
Von allen Leidenschaften die grausamste ist die Undankbarkeit.<br />
Das Unglück verfolgte mich schon im Schosse meiner Mutter.<br />
In meinen Adern fliesst das edle Blut der Grafen von Sommerblat.<br />
Ich war ein Fremder in meiner eigenen Familie.<br />
Trachte nur ein ehrlicher Deutscher zu werden, sagte sie, und der liebe Gott wird dich nicht verlassen.<br />
Ich hatte einen einzigen Sohn und von diesem muß ich mich trennen.<br />
Du bist ein braver Bursche, sagte mein Vater und küsste mich.<br />
Und wir verteidigten unser Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut.<br />
Ich sprang ins Wasser, kletterte auf die andere Seite und machte mich aus dem Staube.<br />
Ich dankte dem Allmächtigen Gott für Seine Barmherzigkeit und mit beruhigtem Gefühl schlief ich ein.<br />
Ich nahm meinen Mantelsack und Beutel und sprang zum Fenster hinaus.<br />
Die deutsche Sprache verdankt er seinem Erzieher Karl Ivanitsch Mauer, den er liebte, wie<br />
wenige Personen in seinem weltlichen Dasein. Er nennt ihn bald „Erzieher“, bald „Djatka“, bald<br />
„Lehrer“. Und auch wenn manchmal eine quasi-herablassende Haltung Karl Ivanitsch gegenüber<br />
zu spüren ist – normal für den Sprößling einer solchen Familie - ist die Liebe für ihn echt<br />
und die Dankbarkeit fraglos. Sätze, wie die oben erwähnten, machten den Übersetzern überhaupt<br />
keine Schwierigkeiten, höchstens diejenigen, die bei einer Translation üblich sind. Also in<br />
Fußnhoten eine ziemlich getreue Wiedergabe zu geben. Aber Karl Ivanitsch Mauer spricht auch<br />
Russisch. Natürlich nicht besonders gut, was verständlich ist. Er macht Fehler, die „normal“ für<br />
einen Nichtmuttersprachler sind.<br />
Eben diese Fehler beschäftigen uns. Denn sie sind charakteristisch für einen, der nicht sehr<br />
gut Russisch spricht und können nur „kreativ“ in eine andere Sprache übersetzt werden. Der<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003