FORSCHUNGSBERICHT 2004 - am Fachbereich ...

WiSo-Forschungsbericht 2004 - Lehrstuhl für Soziologie und Sozialanthropologie 251
4. Armut und Reichtum – komplementäre Größen?
Messprobleme von Armut und Reichtum berühren auch die empirische Bestimmung
von Wechselbeziehungen zwischen beiden Größen. Legt man beispielsweise die
konventionelle Berichterstattung zugrunde, kann Armut selbst dann nicht aufgehoben
werden, wenn der Reichtum, der allen zugute kommt, eine beliebig große, gleichmä-
ßig verteilte Steigerung erfährt. Dies ergibt sich unmittelbar aus der relativen Konzep-
tion der Armutsmessung. Für postindustrielle Gesellschaften erscheint aber die feh-
lende Konsequenz des ökonomischen Distanzmaßes noch schwerwiegender. Wird
nämlich – wie es heute gebräuchlich ist – der Median einer Einkommensverteilung
für die Bestimmung der jeweiligen Armutsschwelle herangezogen, ist die tatsächliche
Konzentration von Reichtum völlig unerheblich für das messbare Ausmaß der Armut.
In einem Szenario, in dem die mittleren Einkommen sinken, sinkt auch die Armuts-
schwelle und folglich die gemessene Armut. Dies gilt selbst dann, wenn das Vermö-
gen insgesamt unverändert bleibt und lediglich nach oben umverteilt wird und Spit-
zenverdienste weiterhin zunehmen. Dass ein solches Szenario keineswegs fiktiv ist,
lässt sich etwa aus der drastisch ungleichen Verteilung des Wirtschaftswachstums
schließen. Während z.B. die realen Einkommen der Arbeitnehmer und Arbeiterinnen
stagnieren, sind Selbständigeneinkommen und Betriebsüberschüsse vor Steuern in
den vergangenen Jahren kräftig gewachsen. Die Krise der zahlenmäßig immer noch
bedeutsamen Klein- und Mittelbetriebe legt hier nahe, von einer verstärkten Konzent-
ration auszugehen:
Tabelle 2: Ungleiche Zunahme des (Brutto-)Volkseinkommens zu laufenden Preisen
Arbeitnehmerentgelt Bruttobetriebsüberschuss
und Selbständigeneinkommen
1995 93.94 61.28
2003 113.75 85.57
Veränderung 1995-
2003
+21% +40%
Quelle: Statistik Austria 2004, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 1988-2003,
Revision 2004.