Zwang in der Heimerziehung? - INIB - Institut für Innovation und ...
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Mathias Schwabe <strong>und</strong> Thomas Evers<br />
stellen? O<strong>der</strong> was will Nils (15 Jahre) ausdrücken, wenn er berichtet: Die<br />
Plexiglasscheiben<br />
„dienen dazu, dass wir nicht abhauen. (. . .) Das wär’ zum Beispiel, wenn<br />
wir mal Hunger haben, nachmittags, dass wir dann nichts essen dürfen.<br />
(. . .) Das dürfen wir genau erst zu den Essenszeiten. Nur wenn wir zu<br />
den Essenzeiten kommen, danach dürfen wir nicht mehr essen, da müssen<br />
wir verhungern.“ (Nils, 474–478, 2. Befragung, 2005)<br />
Nils moniert, dass <strong>der</strong> Zugang zu Essen im Heim reglementiert ist, dass<br />
man sich nicht e<strong>in</strong>fach etwas nehmen kann, wenn man Hunger hat. Sehr<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich glaubt er nicht, er würde <strong>in</strong> die Gefahr kommen, dort<br />
tatsächlich verhungern zu müssen. Das sche<strong>in</strong>t zunächst nur e<strong>in</strong>e Art<br />
Redewendung zu se<strong>in</strong>. Dennoch können wir annehmen, dass er zu e<strong>in</strong>er<br />
o<strong>der</strong> mehreren Gelegenheiten, <strong>in</strong> denen ihm Essen vorenthalten wurde, so<br />
etwas wie e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensives Hungergefühl empf<strong>und</strong>en hat. Vielleicht hat er<br />
dieses o<strong>der</strong> den Akt des Vorenthaltens als beson<strong>der</strong>s schmerzhaft o<strong>der</strong><br />
beängstigend erlebt. Vielleicht trägt er die Phantasie <strong>in</strong> sich, dass an<strong>der</strong>e<br />
ihn verhungern lassen könnten. Vielleicht hat er mit dem Entzug von Essen<br />
o<strong>der</strong> mit Mangel an oraler Versorgung tatsächlich traumatisierende<br />
Erfahrungen gemacht. Vielleicht reichen fünf o<strong>der</strong> 15 M<strong>in</strong>uten, <strong>in</strong> denen<br />
er auf Nahrung warten muss, auch schon aus, um diese Ängste zu reaktivieren.<br />
Sicher ist, dass das Thema Essen <strong>für</strong> ihn e<strong>in</strong>e wichtige, auch beziehungsstiftende<br />
Rolle spielt, denn e<strong>in</strong> paar Sätze weiter, als es um die<br />
wenigen von ihm geschätzten Betreuer geht, charakterisiert er diese folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„Ja, die machen Clubraum auf, [bei denen] dürfen wir e<strong>in</strong>fach<br />
mal essen“ (510).<br />
Die „guten“ Menschen erlauben auch zwischen den fixen Essensterm<strong>in</strong>en<br />
den Zugang zu Nahrungsmitteln <strong>und</strong> setzen damit ihre Macht bedürfnisorientiert<br />
bzw. im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Jugendlichen e<strong>in</strong>. Spannend wäre es,<br />
im Team <strong>der</strong> Pädagogen über diese wahrsche<strong>in</strong>lich auch von an<strong>der</strong>en Jugendlichen<br />
als unterschiedlich erlebten Formen des Machtgebrauches <strong>der</strong><br />
Erwachsenen <strong>in</strong>s Gespräch zu kommen (Wolf 1999).<br />
Neben solchen sprachlichen Übersetzungsproblemen, die zu Unklarheiten<br />
o<strong>der</strong> Missverständnissen führen können, muss aber auch geprüft<br />
werden, ob die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Befragungssituation<br />
tatsächlich <strong>in</strong> differenzierter Weise Auskunft geben o<strong>der</strong> diese sie dazu<br />
motiviert, systematisch nur Ausschnitte ihrer komplexen Erlebnisweisen<br />
zu fokussieren. Vorannahmen <strong>der</strong> Befrager können die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
<strong>in</strong> bestimmte Richtungen lenken, was bei e<strong>in</strong>em so heiklen<br />
Thema wie <strong>Zwang</strong> e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Rolle spielt. Aber auch die Art <strong>der</strong> Fragen<br />
<strong>und</strong> die Form des Interviews können bereits Weichen stellen. Unserer<br />
Erfahrung nach br<strong>in</strong>gen Fragen, die sich <strong>für</strong> Bewertungen <strong>und</strong> Urteile <strong>in</strong>teressieren,<br />
vor allem bei Jugendlichen die Tendenz zur Kritik <strong>und</strong> Ab-