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Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt

Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992

Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992

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8. b) Vom Untertan zum politischen Bürger<br />

Ein moderner Staat muß versuchen, daß die Menschen<br />

des Staatsgebietes in geordneter Form zusammenleben<br />

können. Deswegen muß es Gesetze geben, Verordnungen,<br />

von allen anerkannte Gewohnheitsregeln. Doch das<br />

bedeutet nicht „Statik“ oder Unbeweglichkeit.<br />

Die Zeit der napoleonischen Herrschaft hat Deutschland<br />

verändert. Nicht nur neue Staatsgrenzen waren gezogen<br />

worden. Die Gesetze, beeinflußt von den Ideen<br />

der Aufklärung, der Französischen Revolution und damit<br />

auch von den Ideen der Menschen- und Bürgerrechte<br />

wurden bedeutend für einen immer größer werdenden<br />

Teil der Menschen und ihren Alltag. Und dies führte zu<br />

zum Teil radikalen Änderungen in den Rechtsgrundlagen,<br />

die das Leben bestimmten:<br />

Nassau hob z. B. 1819 die Zunftordnungen auf, führte<br />

also endgültig die Gewerbefreiheit ein, was - wie auch in<br />

anderen Staaten - einer gesellschaftlichen Revolution<br />

gleichkam, wurde doch damit das aus dem Mittelalter<br />

stammende Wirtschaftssystem der regionalen Selbstversorgung<br />

abgelöst. Nun konnte sich auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />

jeder Handwerker niederlassen, ob dies den anderen<br />

Meistern der gleichen Berufgruppe paßte oder nicht!<br />

Manch ein Geselle eröffnete seine eigene kleine Werkstatt<br />

und wurde möglicherweise zum „meisterlichen<br />

Konkurrenten“ seines ehemaligen Meisters. Und manch<br />

ein geschäftstüchtiger Meister stellte nun mehr Gesellen<br />

ein, als dies zuvor von seiner Zunft erlaubt worden wäre.<br />

Um durch die Gewerbefreiheit auch wirklich die durch<br />

die lange Kriegszeit und die damit verbundenen hohen<br />

Abgaben geschwächte Wirtschaft wieder anzukurbeln,<br />

erließ Herzog Wilhelm zum 1. Juli 1819 zusätzlich „Gesetzliche<br />

Vorschriften die Dienstverhältnisse des Gesindes<br />

und der Handwerks-Gehülfen betreffend“ (s. Archiv<br />

der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> „Verordnungsblatt des Herzogtums<br />

Nassau“, Jg. 1819). Die Regelungen der Dienstver-<br />

hältnisse brachten vor allem den Dienstherren bzw. den<br />

Handwerksmeistern Vorteile, weniger dem Personal;<br />

doch war immerhin eine grobe einheitliche Rechtsregulierung<br />

geschaffen worden. Interessant ist, daß der<br />

Dienstvertrag zwischen Meister und Geselle bzw.<br />

Dienstherrn und Gesinde als „Mietvertrag“, das Einstandsgeld<br />

als „Mietgeld“ bezeichnet wurde. Die Höhe<br />

der „bestimmten Belohnung der Dienste“ wurde nicht<br />

per Gesetz oder allgemeiner Festlegung bestimmt (schon<br />

gar nicht durch eine Art Tarifvertrag), sondern „in freier<br />

Übereinkunft“ festgelegt. Neben der Gewerbefreiheit<br />

sollte also auch die Vertragsfreiheit im Arbeitsleben Bedeutung<br />

erhalten, was sich allerdings aus der Sicht der<br />

Arbeitnehmer nur für jene Zeiten als recht gut herausstellen<br />

sollte, in denen wirkliche Knappheit an Arbeitskräften,<br />

an Gesinde und Gesellen, bestand. Die Dauer<br />

des Dienstvertrages beim Gesinde war zudem kurz: „Bei<br />

Gesinde“, so heißt es in der genannten gesetzlichen Verordnung<br />

des Herzogs, „welches zu häuslichen Diensten<br />

gemietet ist, auf ein Vierteljahr, bei demjenigen, welches<br />

zu landwirtschaftlichen Diensten angenommen worden,<br />

auf ein ganzes Jahr erachtet. Der Anfang und das Ende<br />

der Mietzeit wird im ersten Fall auf Weihnachten,<br />

Ostern, Johannistag, im letzteren Fall auf Weihnachten<br />

angenommen.“<br />

Das Leben einer Magd, eines Knechtes oder eines Gesellen<br />

war also sozial recht ungesichert. Die „Launen“<br />

der Dienstherren bzw. der Meister konnten schnell dazu<br />

führen, daß man bald wieder auf der Straße saß. Da man<br />

jeweils ein Zeugnis seines Dienstherrn benötigte, das zudem<br />

der Ortsschultheiß zu beglaubigen hatte, war man<br />

als Gesinde oder Geselle sehr auf das ständige Wohlwollen<br />

des „Mieters“ angewiesen.<br />

Doch die „neue Zeit“ brachte nicht nur Erschwernisse<br />

für die Gesellen und das Gesinde. Auch das Handwerk<br />

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