Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt
Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992
Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992
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9. f) Bruch mit der Vergangenheit- und aktiver Neubeginn<br />
„Endlich nähert sich dieser Wahnsinn seinem Ende.<br />
Es kommt in <strong>Reichelsheim</strong> mit der Besetzung durch<br />
amerikanische Truppen im April 1945. Vor dem Einmarsch<br />
haben beherzte Einwohner auf dem Kirchturm<br />
und an ihren Häusern die weiße Fahne gehißt, um anzuzeigen,<br />
daß kein Widerstand zu erwarten ist, um so <strong>Reichelsheim</strong><br />
vor der Zerstörung zu bewahren“ (W. Coburger<br />
„Der Weg der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche durch 5 Jahrhunderte“,<br />
S. 47).<br />
<strong>Reichelsheim</strong> wurde also nicht durch Befehl „zur<br />
Frontstadt“ erklärt- es öffnete sich und sicherte sich damit<br />
seine Zukunft. Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten wahrnehmen,<br />
daß sie neue kommunalpolitische Wege gehen<br />
mußten, daß sich ihre kleine Stadt wirklich „öffnen“<br />
mußte. Und das geschah.<br />
Neue Ideen waren von den Einwohnern gefordert -<br />
und neue Ideen wurden in der nun beginnenden Nachkriegszeit<br />
im engen Rahmen der knappen öffentlichen<br />
Gelder umgesetzt.<br />
Wesentliche Probleme waren, wie schon berichtet, die<br />
vielen Hunderte von Vertriebenen und Flüchtlingen.<br />
Andere Dialekte, andere Gewohnheiten, andere Lebensauffassungen<br />
und auch andere Konfessionen wurden<br />
zur Alltäglichkeit, und sie wurden vertraut, wurden<br />
fast selbstverständlich. Ende 1947 gab es in <strong>Reichelsheim</strong>,<br />
dieser „ur-protestantischen“ Gemeinde, 475 Katholiken!<br />
Vor dem Krieg konnte man die Anhänger dieser<br />
Glaubenskonfession nahezu an einer Hand abzählen!<br />
Konsequenterweise öffnete man die evangelische Kirche<br />
den Christen dieser Glaubensrichtung, damit auch sie ihren<br />
Gottesdienst feiern konnten. Durch diese Öffnung<br />
wurde - wie selbstverständlich - die <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche<br />
das Gotteshaus für alle alten und neuen <strong>Reichelsheim</strong>er.<br />
Doch die Menschen hatten es in diesem kleinen Dorf<br />
(seit 1937 war es nach Einführung der „Deutschen Gemeindeordnung“<br />
durch die nationalsozialistische<br />
Reichsregierung nicht mehr „Stadt“) nicht leicht: Wie<br />
überall in Deutschland konnte die Ernährung der vielen<br />
Menschen (nahezu täglich wurden es mehr) auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />
nur äußerst schwer gewährleistet werden. Die<br />
alte Reichsmark war nichts mehr wert, die Lebensmittelkarten<br />
teilten bis auf das Gramm genau jedem einzelnen<br />
seine magere Existenzgrundlage zu.<br />
Wer Acker und Stall sein Eigen nennen konnte, der<br />
hatte es gewiß besser, der konnte nicht nur unabhängig<br />
von den Lebcnsmittelkarten Nahrungsmittel auf den<br />
Tisch seiner Familie stellen, der konnte auch im<br />
„Tausch-Verfahren“ manches erwerben, von dem andere<br />
träumten. Doch leicht war es für keinen in jenen Jahren.<br />
Die am 20. Januar 1946 demokratisch gewählten <strong>Reichelsheim</strong>er<br />
Kommunalpolitiker hatten keine leichte<br />
Aufgabe übernommen. Um 75% hatte die Einwohnerschaft<br />
zugenommen! Woher Wohnraum für die Menschen,<br />
woher Schulraum für die Kinder, woher Arbeit<br />
für die Erwachsenen nehmen? Die Kirche half bei der<br />
Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen durch das<br />
„Hilfswerk der evangelischen Kirche“, so gut sie nur<br />
konnte. Über andere Hilfsorganisationen fanden die<br />
amerikanischen „Care-Pakete“ ihren Weg auch nach<br />
<strong>Reichelsheim</strong> zu den bedürftigsten Familien: Pakete mit<br />
Mehl, Milchpulver und manchmal sogar mit Käse und<br />
gesalzener Butter.<br />
Die Ende 1946 / Anfang 1947 sich konstituierende<br />
Staatsgewalt des neugegründeten Staates Hessen versuchte<br />
durch Sonderprogramme, die Gemeinden aktiv<br />
bei der Bewältigung der enormen Probleme zu unterstützen.<br />
Doch erst die Währungsreform im Sommer 1948<br />
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