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Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt

Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992

Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992

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Da es in anderen Teilen Deutschlands den Menschen,<br />

vor allem den Kindern, viel schlechter ging, wurden ab<br />

1917 Kinder in <strong>Reichelsheim</strong> aufgenommen: 39 kamen<br />

aus dem Industriegebiet Westfalens hierher.<br />

Und die Preise stiegen weiter, und damit nahm für viele<br />

der Hunger zu:<br />

„Ein furchtbarer Feind, der Hunger, hatte sich in den<br />

Städten eingestellt. Es wurden vom Kreisamt im Januar<br />

die Kartoffeln in den Kellern abgeschätzt, da im Lande<br />

die Kartoffeln sehr knapp waren. In den Städten lebten<br />

die meisten Menschen von Steckrüben (Kohlraben). Bei<br />

uns war die Kartoffelernte recht gut gewesen. Alle Milch<br />

mußte an die Molkerei abgeliefert werden. Vollmilch erhielt<br />

man nur noch gegen ärztliches Zeugnis, ausgenommen<br />

Kinder unter 6 Jahren. Eine Menge Menschen kamen<br />

täglich aus den Städten, um Kartoffeln u. v. m. sich<br />

zu holen. Bleiche, abgehärmte Gesichter“ (s. S. 469).<br />

Ein wenig weiter lesen wir, das Jahr 1917 betreffend, im<br />

Kirehenbuch: „Die Lebensmittelnot nahm in der Stadt<br />

bedrohlichste Formen an: 30-40 Leute, besonders größere<br />

Kinder und Frauen, auch ältere Männer betteln um<br />

Kartoffeln und Brot. An einem Sonntag Morgen, als der<br />

Zug eingefahren war, zählte ich auf der Straße vom<br />

Pfarrhaus nach dem Bahnhof etwa 150 Menschen, die<br />

›hamstern< wollten - mußten. Viele aus besseren Ständen<br />

sind darunter gewesen“ (s. S. 471).<br />

Und dann notierte der <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer<br />

(s. S. 478): „Die Not greift immer mehr um sich, der<br />

Hunger stellt sich ein bei vielen, die nicht Landwirt<br />

sind. Leider gibt`s Bauernfamilien, die genauso fett und<br />

gut leben als in Friedenszeiten“ (s. S. 478). Wer sich<br />

selbst versorgen wollte, der mußte Anfang 1918 feststellen,<br />

daß ein Ferkel 140-150 Mark, ein Gänschen aus<br />

dem Ei 7 M., ein Entehen 5 M. - Preise, die viele abschreckten.<br />

Als sich das Ende des Krieges zeigte, begann die „Moral“,<br />

die Widerstandskraft der Menschen zu sinken. „Es<br />

ist vom September an furchtbarste Zeit für uns. Die<br />

größte Niedergeschlagenheit bricht sich Bahn, der Krieg<br />

dauert zu lange. Ich hörte Worte wie: ›Gebt den Franzosen<br />

doch alles, was sie haben wollen, damit das Gemetzel<br />

und das Elend aufhört.< Ach, die Heimat wankt und die<br />

Front draußen ist vielfach entblöst. - In der Etappe sitzen<br />

viele und mästen sich. Die Moral ist dahin. Der Krieg<br />

gilt als verloren“ (s. S. 481). „Armes Deutschland! Was<br />

wird werden? Unser Volk fühlt sich von seinen Führern<br />

betrogen, auch von denen ganz oben!! - Die Not wird<br />

größer. Die Revolution bricht aus! Der Kaiser flieht nach<br />

Holland! entsetzlichl“ (s. S. 481).<br />

Kurz danach, am Ende des Jahres 1918, als die Soldaten<br />

nach dem harten Waffenstillstand umgehend aus<br />

dem Frontbereich nach Osten, nach Deutschland, verlegt<br />

werden mußten und auch hier in <strong>Reichelsheim</strong> viele<br />

Einheiten Station machten, waren die Zuhausegebliebenen<br />

entsetzt über das Verhalten der Soldaten. Jene verkauften<br />

auf eigene Kappe die Pferde und die Sättel oder<br />

andere Gegenstände, an denen Interesse bestand. Statt<br />

die Pferde zu füttern und zu bewachen, tanzten sie in den<br />

Gasthäusern bis in den Morgen hinein. „Alle Laster walten<br />

freil“<br />

Vielen <strong>Reichelsheim</strong>er Familien war es wirklich nicht<br />

zum Lachen oder Tanzen zumute: 30 der 130 Soldaten,<br />

die der Pfarrer einst an den Bahnhof von <strong>Reichelsheim</strong><br />

geleitet hatte, kehrten nicht wieder zurück - weitere waren<br />

für den Rest ihres Lebens gezeichnet, hatten an den<br />

Verwundungen schwer zu tragen.<br />

Ehrentafel der Gefallenen und Überlebenden<br />

(han.dschrifllich.e Veränderungen. durch A. Nohl)<br />

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