Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt
Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992
Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
4. Von Petschau und anderswo nach <strong>Reichelsheim</strong><br />
- ein Weg in eine neue Heimat<br />
„Am 25. Juni 1966 sind es zwanzig Jahre, daß wir, aus<br />
unserer Heimat Petschau kommend, hier als Heimatvertriebene<br />
aufgenommen wurden.<br />
Wir haben hier in <strong>Reichelsheim</strong> eine neue Heimat gefunden<br />
und sind mit ihr fest verwurzelt. Das bezeugt, daß<br />
wir nun schon zwanzig Jahre hier wohnen.<br />
Für das uns damals und auch weiterhin entgegengebrachte<br />
Vertrauen und Entgegenkommen sagen wir lhnen<br />
und allen <strong>Reichelsheim</strong>ern herzlichsten Dank.<br />
Im Auftrag der ._ _ 30 ehemaligen Petschauer<br />
gez. Franz Hubl - Altbürgermeister der Stadt Petschau.“<br />
So schrieben 1966 30 ehemals Vertriebene aus der heutigen<br />
Tschechoslowakei an den Bürgermeister und den<br />
Stadtverordnetenvorsteher Otto und Willi Nohl der<br />
Stadt <strong>Reichelsheim</strong>.<br />
Ein schöner Brief, ein Brief, der aber gewiß auch<br />
manch eine unschöne Erinnerung verdrängte. Aber insgesamt<br />
ein Brief, der zeigt, daß sich die Petschauer wie<br />
viele andere Heimatvertriebene und Flüchtlinge auch,<br />
die <strong>Reichelsheim</strong> nach dem entsetzlichen Kriege als<br />
Wohnort zugewiesen bekamen, hier „einlebten“. Mehrere<br />
hundert Menschen aus den östlichen Teilen des<br />
Siedlungsraumes der Deutschen kamen in diesen kleinen<br />
Ort, kamen hierher, in einen „geschlossenen Ort“, einen<br />
Ort mit festen Strukturen und traditionellen Verhaltensweisen.<br />
Sie kamen hierher, meist noch nicht realisierend,<br />
daß sie ihre alte, ihre gewohnte und geliebte Heimat nie<br />
wieder sehen würden - sie kamen hierher in der Hoffnung,<br />
hierfür eine Übergangszeit ohne Angst überleben<br />
zu können.<br />
Doch als ihnen klar wurde, daß sich der „Eiserne Vorhang“<br />
zwischen West und Ost für sie nie wieder derart<br />
öffnen werde, daß sie wieder heimkehren könnten, da<br />
entfalteten sie hier ihre Aktivitäten, packten sie hier ihr<br />
Schicksal „am Schopfe“.<br />
Die <strong>Reichelsheim</strong>er versperrten sich ihnen im großen<br />
und ganzen nicht. Sie wußten Arbeit zu schätzen und<br />
schätzten deswegen all die, die bereit waren zu arbeiten.<br />
Als sie z. B. sahen, daß und vor allem WIE die „Neubürger“<br />
die ihnen zur Verfügung gestellten Gärten bearbeiteten,<br />
wie diese sich untereinander halfen, um die größte<br />
Not zu besiegen, wie dankbar sie waren, wenn man ihnen<br />
am Ort Arbeit und damit eine geringe Verdienstmöglichkeit<br />
gab - da waren die Alteingesessenen auch bereit,<br />
sich zu öffnen, die Neuen zu akzeptieren, sie tatsächlich<br />
als Mitbürger anzuerkennen.<br />
Bald wurden die ersten Pläne entworfen, um vermehrten<br />
Wohnraum zu schaffen. Die ersten Häuser im Bereich<br />
„Haingraben“ entstanden; dann - Mitte der 50er<br />
Jahre - die gesamte Siedlung zwischen Feuergraben, Sudetenstraße,<br />
Friedensstraße und Hans-Geis-Küppel.<br />
Wie gut das Verständnis auch damals sehon war, das verdeutlicht<br />
die Tatsache, daß sich auch Alt-<strong>Reichelsheim</strong>er<br />
- mit Erfolg - um Grundstücke in diesem Wohngebiet bewarben.<br />
„Berührungsängste“ gab es also schon nach wenigen<br />
Jahren nicht mehr. Dies verstärkte die Intregration der<br />
Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Eine Ghettobildung<br />
fand nicht statt. Wie sehr die Neubürger „Ja“ zu dieser neuen<br />
Heimat sagten, zeigten ihre Aktivitäten in den Vereinen<br />
und in den kommunalpolitisehen Organen der Stadt, vor<br />
allem der Stadtverordnetenversammlung.<br />
Heute? Heute spricht ein Teil der Kinder der Heimatvertriebenen<br />
aus dem Sudetenland oder Schlesien, aus<br />
Ost- oder Westpreußen, aus Pommern oder Siebenbürgen<br />
besseres <strong>Reichelsheim</strong>er Platt als die Kinder der Alt-<br />
Bürger. Heimat ist der Ort allerdings nunmehr für die<br />
Kinder beider Bevölkerungsgruppen - dies wohl auch<br />
deswegen, weil sie alle wissen, daß durch die Arbeit ihrer<br />
Eltern <strong>Reichelsheim</strong> seit 1945 sich mehr verändert hat als<br />
in vielen Jahrhunderten zuvor.<br />
206