Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt
Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992
Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992
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nunmehr nur noch an die Vorgaben seiner Kirche und -<br />
im Sinne Luthers - an die seines Gewissens gebunden.<br />
Die Ereignisse im Jahre 1848 hatten aber noch weitere<br />
Konsequenzen für das Leben in <strong>Reichelsheim</strong> dadurch,<br />
daß von dieser Zeit an der Pfarrer durch Gesetzesänderung<br />
auch zu einem „Ortsbürger“ wurde, also nichtmehr<br />
als Repräsentant der Obrigkeit außerhalb der von ihm<br />
geführten Gemeinde stand. „Auch die Geistlichen und<br />
die Staatsdiener werden von diesem Jahr an als Gemeindebürger<br />
mit allen Rechten und Pflichten, allen Vorteilen<br />
und Lasten, welche dieselben schon haben, angesehen.<br />
Es hängt also nun an jedem Geistlichen dahier ab,<br />
seinen Mann an der Spritze zu stellen, für die regelmäßigen<br />
Nachtwachen zu sorgen, die gewöhnlichen Frondienste<br />
zu leist_en. Dafür hat er in den Gemeindeversammlungen<br />
Sitz und Stimme und erhält seinen Anteil an<br />
den Gemeindenutzungen, welche in diesem Jahr aus 1<br />
Stecken Buchen Schnittholz, 1 Stecken Stab- und Reiserholz<br />
und 2 Morgen Gemeindewiesen bestand“, schreibt<br />
Pfarrer Frankenfeld 1849 in das Kirehenbuch (s. S. 87).<br />
Doch die „Revolution“ des Jahres 1848, die nicht nur<br />
in vielen Städten Deutschlands große Unruhen und bei<br />
Barrikadenkämpfen auch viele Tote verursacht hatte,<br />
sondern die vor allem das verdeckt keimende demokratische<br />
Bewußtsein der Menschen aus allen Schichten der<br />
Bevölkerung geweckt hatte, veränderte auch im kommunalpolitischen<br />
Bereich die Strukturen! Pfarrer Frankenfeld<br />
sei auch in dieser Frage wieder als Zeitzeuge zitiert:<br />
„Mit Anfang dieses Jahres wurde eine neue Gemeindeverwaltung<br />
in dem Herzogtum Nassau eingeführt, welche<br />
der Gemeinde in Ansehung ihres Gemeindehaushalts größere<br />
Freiheiten zuerkannte. An der Spitze der Gemeinde<br />
wurde als Verwaltungsbeamte der Bürgermeister mit dem<br />
Gemeinderat gestellt, die sämtlich durch die Gemeinde<br />
selbst, und zwar erstere auf 6 Jahre, letzter auf 4 Jahre ge-<br />
wählt wurden. Hier wurde der bisherige Amtsschultheit<br />
Schmid zum Bürgermeister gewählt und ihm 6 Gemeinderäte<br />
beigegeben. Bemerkenswert ist, daß fast alle Gemeinderäte<br />
den Minderbegüterten angehörten.“<br />
Diese Gemeindeordnung blieb nahezu unverändert bis<br />
Ende 1918 in Kraft. Sie gab den Ortsbürgern mehr Mitsprache<br />
bei den Entscheidungen der Gemeinde. Diese Gemeindeordnung<br />
löste jene ab, die während der napoleonischen<br />
Zeit eingeführt worden war, nämlich die, die den<br />
Schultheißen in das kommunale Entscheidungszentrum<br />
stellte. Bis 1800 gab es immer zwei Bürgermeister, die<br />
jedes Jahr neu aus dem Kreis der „Honoratioren“ der Einwohnerschaft<br />
gewählt worden waren, was sich nach Meinung<br />
des bestimmenden Herrschafthauses wegen der Zunahme<br />
der Probleme und Schwierigkeiten der Abrechnungen<br />
nicht mehr „fähig genug“ gezeigt hatte.<br />
So hatte aber die „Revolution von 1848“ doch einen bedeutenden<br />
Schritt in die moderne Form der kommunalen<br />
Selbstverwaltung gemacht.<br />
Wenn man all die geschilderten Ereignisse über die erste<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfaßt, so ergibt sich<br />
das, was die Überschrift über dieses Kapitel ankündigte: die<br />
Menschen waren selbstbewußter, sie waren eigenverantwortlicher<br />
geworden, sie waren politischer geworden. Die<br />
Zeit. der reinen „Untertänigkeit“ war vorbei - endgültig.<br />
Doch die Freiheitskämpfer gegen das napoleonische<br />
Frankreich hatten sich nicht nur den Ruf „Freiheit und<br />
Selbstbestimmung“ auf die Fahnen geschrieben. Auch der<br />
Ruf nach „Einheit“ war für die Menschen jener Zeit erregend.<br />
Die Einheit Deutschlands war allerdings durch die<br />
Revolution nicht verwirklicht. Heuchelheim, Weckesheim,<br />
Blofeld, Bingenheim und Florstadt: sie waren immer<br />
noch Ausland zu <strong>Reichelsheim</strong>; eine Grenzüberschreitung<br />
war nur mit Hilfe eines Passes - oft nach Zahlung eines<br />
Zolles - erlaubt!<br />
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