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Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt

Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992

Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992

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6. Abschließende Frage: Was heißt das eigentlich:<br />

„<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbauer“?<br />

Wer sich in den Nachbarorten nach <strong>Reichelsheim</strong> und<br />

die <strong>Reichelsheim</strong>er erkundigt, der wird möglicherweise<br />

gesagt bekommen, dort lebten die „Stehkragenbauern“,<br />

zu hochdeutsch: die „Feinen auf dem Kutschbock“!<br />

Manche werden das hämisch/abschätzig und mit einem<br />

„gewissen“ Unterton sagen - so wie nun einmal über die<br />

Leute „auf der anderen Seite des Grabens“ gesprochen<br />

wird . _ .<br />

Und wenn man dann nach <strong>Reichelsheim</strong> kommt und<br />

die Menschen hier nach der Bedeutung oder der Herkunft<br />

dieser Bezeichnung fragt, dann wird man entweder<br />

(meist) ein Schulterzucken als Antwort auf diese Frage<br />

bekommen oder aber man wird folgendes erleben: Der<br />

angesprochene <strong>Reichelsheim</strong>er - es kann in dem Fall nur<br />

ein Alt-<strong>Reichelsheim</strong>er im Rentenalter sein - wird sich<br />

gerade aufrichten, tief durchatmen, auf dem Stuhl nach<br />

hinten rücken und dann mit ernstem Gesicht beginnen:<br />

„Also, das mit den Stehkragenbauern, das ist den heutigen<br />

Menschen nicht leicht zu erklären, weil das nur durch<br />

einen Rückblick in unsere Vergangenheit erklärt werden<br />

kannl“<br />

Tja, und dann wird unser Gesprächspartner oder besser:<br />

unser Erzähler mit einem „Intensivkurs <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Geschichte“ begründen, warum das Wort „Stehkragenbauer“<br />

auf jeden Fall kein Schimpfwort ist, sondern<br />

eine sachliche Kennzeichnung des <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbauern<br />

früherer Zeit. Vielleicht erfährt der Zuhörer<br />

dann z. B. folgendes:<br />

Für Kaufleute, die aus dem Norden und Nordosten<br />

über den Vogelsberg herunter nach Frankfurt zogen, ist<br />

<strong>Reichelsheim</strong> der letzte feste Platz vor dem Ziel gewesen.<br />

Gar manchmal, wenn die Bauern vom Feld mit ihren<br />

Ackerwagen heimfuhren, zogen mit ihnen auch die Wagen<br />

der reisenden Kaufleute in die Stadt ein, um Schutz<br />

und Unterkunft für die Nacht innnerhalb der starken<br />

Stadtmauern zu suchen. An der breiten Hauptstraße und<br />

einzelnen Nebengassen (z. B. Schweizergasse) waren gute,<br />

behäbige Gastwirtschaften mit großen Höfen. Da<br />

stellte der Fuhrknecht unter, dieweil die Herren ins<br />

Wirtszimmer gingen und Essen und Trinken bestellten.<br />

Dann fanden sich auch die <strong>Reichelsheim</strong>er ein, und alle<br />

waren froh und guter Dinge. Dabei erzählte man von Begebenheiten<br />

aus nah und fern und suchte Kurzweil, vor<br />

allem aber Unterhaltung. Da waren die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

zu der lebenslustigen, spottsüchtigen Art gekommen, die<br />

sie auch heute oft nicht lassen können („<strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Spötter“). Aber sie wurden auch durch diesen Verkehr<br />

zu Menschen, die einen weiteren Blick als ihre Nachbarn<br />

haben, denn sie blieben so immer auf dem Laufenden<br />

(Diese Darstellung ist- sprachlich leicht abgeändert -jene,<br />

die W. Coburger in: „Der Weg der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Kirche durch 5 Jahrhunderte“, S. 41, niederschrieb).<br />

Aber nicht allein die Tatsache, daß man glaubte, durch<br />

die stationmachenden Kaufleute über das Geschehen in<br />

der Welt besser unterrichtet zu sein als die Menschen in<br />

den abgelegeneren Nachbargemeinden, führte zu dem<br />

Bewußtsein, daß man sich abheben könne, ja: müsse. Es<br />

war vor allem das „Städtische“, das <strong>Reichelsheim</strong> nun<br />

einmal ausgemacht hatte, das es über mehrere Jahrhunderte<br />

geprägt hatte und auf das die <strong>Reichelsheim</strong>er, und<br />

nicht nur die reichen und die reicheren unter ihnen, ehrlich<br />

stolz waren. Verneinen wollte man dieses Gefühl,<br />

Stadt-Mensch zu sein, wahrlich nicht; im Gegenteil:<br />

Manch ein Bauer ist nach glaubwürdigen Berichten Anfang<br />

dieses Jahrhunderts nur dann vom eigenen Hofgegangen<br />

oder gefahren , wenn ihm zuvor seine Bäuerin bestätigt<br />

hatte, das „der Binder“ bzw. „die Schleife“ um<br />

den weißen Stehkragen gerade sitzt! Oder sollte man<br />

nicht mehr zeigen dürfen. wer man war und woher man<br />

kam?<br />

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