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Reduction and Elimination in Philosophy and the Sciences

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„Vom Weißdorn und vom Propheten“ – Poetische Kunstwerke und Wittgenste<strong>in</strong>s „Fluß des Lebens“ — Annelore Mayer<br />

Perspektive sogenannten Alten Testamentes gehörenden<br />

Buches gibt. Auch hier geht es um die Darstellung e<strong>in</strong>er<br />

wesentlichen Zust<strong>and</strong>sveränderung, um die Evidenzialisierung<br />

jenes Augenblickes – oder als was sollte es<br />

bezeichnet werden – <strong>in</strong> welchem Jesaja sich vom Nicht-<br />

Propheten zum Propheten w<strong>and</strong>elt. Diese W<strong>and</strong>lung, die<br />

im Gedicht der nunmehr Verw<strong>and</strong>eltwordende und somit<br />

Verw<strong>and</strong>eltseiende selbst beschreibt und reflektiert,<br />

geschah im göttlichen Auftrag durch e<strong>in</strong>en Seraph,<br />

welcher dabei dem Jesaja u.a. „die sündige und<br />

geschwätzige Zunge aus dem Mund herauszog“ und <strong>in</strong><br />

den durch dieses Herausziehen „verkl<strong>in</strong>genden Mund“ mit<br />

der „blutbefleckten Rechten“ „den Stachel der klugen<br />

Schlange“ h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>legte.<br />

„И он к устам моим приник,<br />

и вырвал грешный мой язык,<br />

и празднословный и лукавый,<br />

и жало мудрыя змеи<br />

в уста замершие мои<br />

вложил десницею кровавой.“<br />

Bei 16 der <strong>in</strong>sgesamt 30 Zeilen des ohne strophische Gliederung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em durchlaufenden Gedichtes steht am Anfang<br />

das Wort „и“ („und“), wobei von Zeile 10 – 18 dieses Worte<br />

jeweils 9 mal h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong><strong>and</strong>er den Anfang bildet, von Zeile 21<br />

- 23 3 mal h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong><strong>and</strong>er. Auf diese Weise br<strong>in</strong>gt der Dichter<br />

die Zusammengehörigkeit, ja das gewissermaßen<br />

„Punkthafte“ all des hier vor sich Gehenden zur Sprache.<br />

Auch hier ergibt also e<strong>in</strong> Konglomerat von E<strong>in</strong>zeltatsachen<br />

die Gesam<strong>the</strong>it e<strong>in</strong>er Tatsache, auf welcher die Bestimmung<br />

des Jesaja zum Propheten und se<strong>in</strong> dadurch e<strong>in</strong> solches<br />

gewordenes „Prophetse<strong>in</strong>“ beruht.<br />

Bestimmung, W<strong>and</strong>lung und Werdung zum<br />

Propheten, deren Realisierung Pušk<strong>in</strong>s Jesaja durch den<br />

von Gott beauftragten Seraph an sich im Wahrnehmen<br />

derselben reflektiert, sie alle drei s<strong>in</strong>d samt ihrem Ergebnis<br />

des „Prophet geworden Se<strong>in</strong>s“ <strong>in</strong> ihrem Kontext mit dem<br />

Göttlichen etwas „Geheimnisvolles“ und somit letztlich<br />

„Unaussprechliches“. Der Dichter zeigt mith<strong>in</strong> nicht nur, dass<br />

es dieses Geheimnisvoll-Unaussprechliche gibt, sondern<br />

„dies zeigt sich“ – um nochmals Wittgenste<strong>in</strong> zu Wort<br />

kommen zu lassen – und es zeigt sich mith<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Notwendigkeit, das „Mystische“ zu se<strong>in</strong>.<br />

Ausgehend von Wittgenste<strong>in</strong>s Wertschätzung des<br />

Gedichtes „Graf Eberhards Weißdorn“ von Ludwig Uhl<strong>and</strong><br />

und des Gedichtes „Пророк“ von Aleks<strong>and</strong>r Sergeevič<br />

Pušk<strong>in</strong> könnte folgender Gedanke entwickelt werden: E<strong>in</strong><br />

Wort gew<strong>in</strong>nt „im Fluß des Lebens“ se<strong>in</strong>e Bedeutung. Die<br />

Dichter schaffen mit ihrem ganz bestimmten Werk, also<br />

etwa mit „Graf Eberhards Weißdorn“ oder „Пророк“ e<strong>in</strong>en<br />

ganz bestimmten solchen „Fluß des Lebens“. Im Gedicht<br />

kommt dank des strukturellen Vermögens des Dichters und<br />

se<strong>in</strong>er Fähigkeit, Wörter mit bestimmter lexikalischer<br />

Bedeutung zu e<strong>in</strong>er neuen „Gesam<strong>the</strong>it der Tatsachen“<br />

zusammenzufassen und <strong>in</strong>nerhalb der Struktur ihres<br />

Werkes als solche zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen das<br />

Unaussprechliche als Gezeigtes zur Evidenz.<br />

Wenn dies aber „das Mystische“ ist, dann ist dieses<br />

„Mystische“ nichts weniger als e<strong>in</strong> vom Dichter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Art strukturierter „Fluß des Lebens“. In letzter<br />

Konsequenz könnte dies bedeuten, dass die Wörter<br />

Uhl<strong>and</strong>s und Pušk<strong>in</strong>s aus den beiden hier angesprochenen<br />

Gedichten gleichsam <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und denselben „Fluß des<br />

Lebens“, nämlich den „mystischen“ e<strong>in</strong>gebettet s<strong>in</strong>d – und<br />

dies unabhängig von der Verschiedenheit der<br />

angewendeten Sprachen Deutsch und Russisch. Das Bett<br />

des Lebensflusses ist aber dann auch gestaltgebend für die<br />

Struktur des poetischen Kunstwerkes – so es denn e<strong>in</strong><br />

solches ist, wie im konkreten Fall von Uhl<strong>and</strong> und Pušk<strong>in</strong>.<br />

Die von beiden angew<strong>and</strong>te präzise Form ist demnach im<br />

den beiden Gedichten geme<strong>in</strong>samen „Fluß des Lebens“,<br />

nämlich jenem des „Mystischen“ grundgelegt und die beiden<br />

Künstler gestalten dieses dort Grundgelegte gemäß ihrer<br />

<strong>in</strong>dividuellen künstlerischen Fähigkeit und den diesbezüglichen<br />

Möglichkeiten der von ihnen verwendeten<br />

Sprachen. So gesehen haben beispielsweise die Wörter<br />

„und“ bei Uhl<strong>and</strong> bzw. „и“ bei Pušk<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihrer Funktion für die<br />

Akkumulierung von E<strong>in</strong>zeltatsachen zu e<strong>in</strong>er „Gesam<strong>the</strong>it<br />

der Tatsachen“ als neuer, unaussprechlich gezeigter<br />

Tatsache trotz ihrer Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er jeweils <strong>and</strong>eren<br />

Sprache die selbe Bedeutung, s<strong>in</strong>d also, um bei<br />

Wittgenste<strong>in</strong>s Bild zu bleiben, <strong>in</strong> diesem Falle der zwei<br />

Gedichte zwei Tropfen im selben Flusse. In diesen Fluss<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zusteigen – ist das nicht „e<strong>in</strong> Erlebnis“, vermittelt durch<br />

das Kunstwerk <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er durch den Künstler angew<strong>and</strong>ten<br />

Struktur und Wortwahl? „Aber“, so Wittgenste<strong>in</strong>, „es gibt<br />

Erlebnisse charakteristisch für den Zust<strong>and</strong> des „Sichauskennens.“<br />

(Wittgenste<strong>in</strong> 1984, 721, S 337).<br />

In den beiden hier angesprochenen Gedichten darf<br />

davon ausgegangen werden, dass sich die Dichter – ganz<br />

im S<strong>in</strong>ne Wittgenste<strong>in</strong>s – eben nicht bemühten, „das Unaussprechliche<br />

auszusprechen“. Und weil dadurch durch sie<br />

und <strong>in</strong> ihnen nichts verloren gegangen ist, „sondern das<br />

Unaussprechliche - unaussprechlich – <strong>in</strong> dem Ausgesprochenen<br />

enthalten“ ist, so lässt sich daraus e<strong>in</strong> letztendlicher<br />

Wert von Sprache – und zwar <strong>in</strong> der Gesam<strong>the</strong>it<br />

der Tatsachen ihrer Ersche<strong>in</strong>ungsformen, wie beispielsweise<br />

als Deutsch oder Russisch – wahrnehmen: S<strong>in</strong>n und<br />

Funktion der Sprache ist schlechth<strong>in</strong> nicht das Aussprechen,<br />

sondern das Zeigen des Unaussprechlichen oder zum<strong>in</strong>dest<br />

das H<strong>in</strong>zeigen auf dieses. E<strong>in</strong> sprachlich-poetisches Kunstwerk<br />

bewerkstelligt dies durch das Nichtbemühen um das<br />

Aussprechen und durch das Bemühen, die „Gesam<strong>the</strong>it der<br />

Tatsachen“ als neue geme<strong>in</strong>same Tatsache zu zeigen, so<br />

dass e<strong>in</strong> „Zust<strong>and</strong> des Sich-auskennens“ herbeigeführt wird.<br />

„Was passiert, wenn man Wittgenste<strong>in</strong>s Gesamtnachlass<br />

nicht nur als Philosophie, sondern auch als<br />

Literatur, als Dichtung ... betrachtet und liest? Man würde<br />

nichts verlieren und vieles gew<strong>in</strong>nen“ (Rothaupt, S 287).<br />

Josef Rothaupts Frage mit folgernder Feststellung hat auch<br />

den hier unternommenen Inbeziehungsetzungen von<br />

wittgenste<strong>in</strong>’schen Überlegungen mit den Möglichkeiten und<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsformen poetischer Kunstwerke.<br />

Nahrung gegeben. Äußerungen des Philosophen<br />

etwa zu Uhl<strong>and</strong>, Pušk<strong>in</strong> und machen <strong>and</strong>eren bedeutenden<br />

Vertretern der Literatur – so marg<strong>in</strong>al sie auch fürs Erste<br />

ersche<strong>in</strong>en mögen – eröffnen vielleicht tatsächlich zusätzliche<br />

Möglichkeiten nicht nur des Verständnisses, sondern<br />

auch der Veranschaulichung von Gedankengängen, so wie<br />

es hier zu zeigen unternommen wurde. Und was spräche<br />

denn tatsächlich dagegen, Wittgenste<strong>in</strong> – unbeachtet des<br />

Gehaltes und der Orig<strong>in</strong>alität se<strong>in</strong>es Argumentierens – auch<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zusammenhang zu sehen mit Denkern wie<br />

beispielsweise Johannes Tauler, Angelus Silesius oder<br />

Friedrich Nietzsche, deren Hervorbr<strong>in</strong>gungen ja auch<br />

durchaus anerkannten literarischen Rang besitzen oder<br />

auch mit Literaten wie Ljev Nikolajevič Tolstoj oder Ra<strong>in</strong>er<br />

Maria Rilke, deren E<strong>in</strong>fluss auf die Philosophie im<br />

Allgeme<strong>in</strong>en und speziell auch auf Wittgenste<strong>in</strong> ja auch<br />

beachtlich ist? Kann e<strong>in</strong>e solche Sicht nicht als durchaus<br />

angemessen erkannt werden e<strong>in</strong>em Denker gegenüber, der<br />

sich selbst die Frage stellt: „O, warum ist mir zumute, als<br />

schrieb ich e<strong>in</strong> Gedicht, wenn ich Philosophie schreibe?“<br />

(zitiert bei Rothaupt, S 288).<br />

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