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Reduction and Elimination in Philosophy and the Sciences

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Zwischen Humes Gesetz und „Sollen impliziert Können“ – Möglichkeiten und Grenzen empirisch-normativer Zusammenarbeit <strong>in</strong> der Bioethik (Teil II) — Sebastian Schleidgen<br />

garantiert, dem durch die Idealnormen angestrebten<br />

moralischen Idealzust<strong>and</strong> möglichst nahe zu kommen.<br />

Während Idealnormen ausschließlich mit den Mitteln<br />

normativer Theorie entwickelt werden können, ist e<strong>in</strong>e<br />

Übersetzung <strong>in</strong> Praxisnormen auf die Mittel empirischer<br />

Wissenschaften angewiesen. Mit H<strong>in</strong>blick auf die von uns<br />

dargestellten Erkenntnismöglichkeiten erweisen sich<br />

empirische Sozialwissenschaften als <strong>in</strong> besonderem Maße<br />

für diese Übersetzung geeignet, da sie die Erfassung<br />

kognitiver und motivationaler Beschränkungen<br />

ermöglichen. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> der Lage, auch<br />

extern bed<strong>in</strong>gte Beschränkungen zu erfassen. Dabei ist zu<br />

beachten, dass empirische Erkenntnisse nicht<br />

ausschließlich Beschränkungen der zu übersetzenden<br />

Idealnorm zur Folge haben müssen. Denn gerade aus der<br />

Erkenntnis motivationaler Beschränkungen h<strong>in</strong>sichtlich<br />

moralischer Normen lassen sich h<strong>and</strong>lungs<strong>the</strong>oretische<br />

Steuerungsmöglichkeiten ableiten: Wenn Klarheit darüber<br />

besteht, aus welchen Gründen Akteure entgegen den<br />

Anforderungen e<strong>in</strong>er moralischen Norm h<strong>and</strong>eln, obwohl<br />

sie dazu kognitiv <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, lassen sich<br />

möglicherweise Wege entwickeln, die Akteure zur<br />

E<strong>in</strong>haltung der Norm zu motivieren. Die Ergebnisse der<br />

empirischen Sozialwissenschaften schränken die<br />

Anforderungen idealer Normen also nicht zw<strong>in</strong>gend e<strong>in</strong>,<br />

sondern können im Gegenteil sogar Mittel und Wege<br />

aufzeigen, die Akteure näher an die E<strong>in</strong>haltung der<br />

Idealnormen, mith<strong>in</strong> die Erreichung des moralischen<br />

Idealzust<strong>and</strong>es zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Die zweite Möglichkeit adäquater empirischnormativer<br />

Zusammenarbeit betrifft die Klärung der durch<br />

Brückenpr<strong>in</strong>zipien ausgedrückten Anwendungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

moralischer Normen. Diese Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht mit jenen – ebenfalls empirisch zu<br />

überprüfenden – Beschränkungen menschlichen H<strong>and</strong>elns<br />

zu verwechseln, die wir zuvor als Grundlage der<br />

Entwicklung von Praxisnormen betrachtet haben. Vielmehr<br />

werden solche Bed<strong>in</strong>gungen durch Sätze wie „Alle<br />

leidensfähigen Wesen s<strong>in</strong>d gemäß der Norm S zu<br />

beh<strong>and</strong>eln“ ausgedrückt. Wie wir gezeigt haben, muss es<br />

Aufgabe normativer Theorie se<strong>in</strong>, neben der Norm S auch<br />

ihre Anwendungskriterien K – hier „Leidensfähigkeit“ – zu<br />

generieren. Die Bestimmung von Fällen, <strong>in</strong> denen S <strong>in</strong> der<br />

Praxis geboten ist, ist jedoch an empirische Erkenntnisse<br />

gebunden: um festzustellen, ob gegenüber e<strong>in</strong>em Wesen<br />

X tatsächlich entsprechend S geh<strong>and</strong>elt werden soll, ist<br />

empirisch zu überprüfen, ob X faktisch leidensfähig ist.<br />

Nun h<strong>and</strong>elt es sich im Falle e<strong>in</strong>er Anwendungsbed<strong>in</strong>gung<br />

„Leidensfähigkeit“ zwar offenkundig um e<strong>in</strong> naturwissenschaftlich<br />

zu überprüfendes Kriterium. Es s<strong>in</strong>d<br />

jedoch auch Brückenpr<strong>in</strong>zipien entwickelt worden, die<br />

sozialwissenschaftlich zu überprüfende Kriterien e<strong>in</strong>führen:<br />

E<strong>in</strong>es der bekanntesten Beispiele hierfür ist das<br />

regelutilitaristische Brückenpr<strong>in</strong>zip „Wenn dies zur<br />

Stabilisierung e<strong>in</strong>er Gesellschaft beiträgt, ist gemäß der<br />

Norm S zu h<strong>and</strong>eln“. Bei der Klärung solcher<br />

Anwendungsbed<strong>in</strong>gungen ist normative Theorie klarerweise<br />

auf sozialwissenschaftliche Empirie angewiesen.<br />

Die dritte Möglichkeit adäquater empirischnormativer<br />

Zusammenarbeit betrifft die Messung und<br />

Evaluation der sozialen Praxis h<strong>in</strong>sichtlich der Umsetzung<br />

moralischer Normen sowie der Genese neuer moralischer<br />

Fragestellungen: Wie wir feststellten, s<strong>in</strong>d empirische<br />

Sozialwissenschaften <strong>in</strong> der Lage, H<strong>and</strong>lungs- und<br />

Diskursmuster der sozialen Praxis zu erfassen. Auf Basis<br />

dieser Erkenntnisse ist es möglich, die soziale Praxis<br />

daraufh<strong>in</strong> zu bewerten, ob und <strong>in</strong>wiefern sie den<br />

Anforderungen der zugrunde gelegten Praxisnormen<br />

entspricht. Stellt sich beispielsweise heraus, dass<br />

bestimmte Praxisnormen faktisch ke<strong>in</strong>e Anwendung<br />

300<br />

f<strong>in</strong>den, obwohl sie für moralisch wertvoll befunden wurden,<br />

können auf Grundlage dieser Erkenntnisse Maßnahmen<br />

e<strong>in</strong>geleitet werden, die e<strong>in</strong>e moralkonforme Praxis im<br />

S<strong>in</strong>ne dieser Normen befördern. Darüber h<strong>in</strong>aus können<br />

empirische Sozialwissenschaften den gesellschaftlichen<br />

Diskurs auf – beispielsweise durch neuartige Technologien<br />

herausgeforderte – neue moralische Probleme und<br />

Debatten h<strong>in</strong> untersuchen und diese e<strong>in</strong>er normativen<br />

Analyse zugänglich machen. So lässt sich <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahren beispielsweise e<strong>in</strong>e verstärkte „moralische<br />

Hilflosigkeit“ gegenüber neuartigen reproduktionstechnologischen<br />

Mitteln beobachten, die dr<strong>in</strong>gend e<strong>in</strong>er<br />

normativen Analyse bedarf. Vor e<strong>in</strong>er solchen Analyse<br />

muss jedoch zunächst die Feststellung e<strong>in</strong>es solchen<br />

Bedürfnisses stehen, die offenkundig den empirischen<br />

Sozialwissenschaften obliegt. Damit kann auch die<br />

grundlegende Leistung empirischer Sozialwissenschaften,<br />

soziale H<strong>and</strong>lungs- und Diskursmuster zu erfassen und<br />

auszuwerten, für die empirisch-normative Zusammenarbeit<br />

fruchtbar gemacht werden.<br />

3. Conclusio<br />

In den beiden Teilen dieses Aufsatzes haben wir aufgezeigt,<br />

warum und an welchen Stellen e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit<br />

empirischer und normativer Wissenschaften – <strong>in</strong>sbesondere<br />

<strong>in</strong> der Bioethik als angew<strong>and</strong>ter Ethik – zw<strong>in</strong>gend<br />

notwendig ist: Erkenntnisziele sowie die jeweils immanenten<br />

wissenschafts<strong>the</strong>oretischen Fundamente br<strong>in</strong>gen beide<br />

Diszipl<strong>in</strong>en an ihre Erkenntnisgrenzen, wenn es um<br />

(bio-)ethische Fragestellungen geht und erfordern daher<br />

e<strong>in</strong>en Rückgriff auf die Erkenntnismöglichkeiten der jeweils<br />

<strong>and</strong>eren Diszipl<strong>in</strong>. Es ergibt sich also – so könnte man<br />

auch sagen – e<strong>in</strong>e Notwendigkeit der Zusammenarbeit<br />

gerade daraus, dass Theoriekerne und Methodologie beider<br />

Diszipl<strong>in</strong>en – zum<strong>in</strong>dest solange man wissenschafts<strong>the</strong>oretisch<br />

adäquat arbeitet – strikt vone<strong>in</strong><strong>and</strong>er getrennt<br />

s<strong>in</strong>d und bleiben müssen.<br />

Diese wissenschafts<strong>the</strong>oretischen Überlegungen<br />

konnten wir durch formallogische Überlegungen zum<br />

Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Sollen bzw. Sollen und Können<br />

weiter fundieren und symbiotische Ansätze als e<strong>in</strong>zig<br />

adäquate Form empirisch-normativer Zusammenarbeit<br />

charakterisieren. Davon ausgehend wurden drei zulässige<br />

Möglichkeiten der Zusammenarbeit <strong>in</strong> der Bioethik<br />

charakterisiert: Erstens die empirische Erfassung<br />

kognitiver, motivationaler und extern bed<strong>in</strong>gter<br />

Beschränkungen, welche die notwendige Übersetzung von<br />

Ideal- <strong>in</strong> Praxisnormen erst ermöglichen. Zweitens die<br />

empirische Erfassung der Anwendungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

moralischer Normen, die notwendig für die situationsspezifische<br />

Entscheidung über das Vorliegen e<strong>in</strong>er<br />

moralischen Verpflichtung ist. Und drittens die empirische<br />

Evaluation der sozialen Praxis, die e<strong>in</strong>e Bewertung des<br />

faktischen Umgangs mit Praxisnormen erlaubt und darüber<br />

h<strong>in</strong>aus neuartige moralische Fragestellungen ausf<strong>in</strong>dig<br />

machen und der normativen Analyse übergeben kann.<br />

Literatur<br />

Albert, Hans 1972 Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie<br />

des kritischen Rationalismus, Hamburg: Hoffmann und Campe.<br />

Kant, Immanuel 1965 Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft, Hamburg: Felix<br />

Me<strong>in</strong>er.<br />

Molewijk, Bert, Stiggelbout, Anne M., Otten, Wilma, Dupuis, Heleen<br />

M., <strong>and</strong> Kievit, Job 2004 “Empirical Data <strong>and</strong> Moral Theory. A<br />

Plea for Integrated Empirical Ethics”, Medic<strong>in</strong>e, Health Care, <strong>and</strong><br />

<strong>Philosophy</strong> 7: 55-69.

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