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Plenarprotokoll 16/91 - Deutscher Bundestag

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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – <strong>16</strong>. Wahlperiode – <strong>91</strong>. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9277<br />

(A) von Verantwortung gefüttert ist. Ich will darstellen, was seiner Pflichten, im Leben oder durch den erwählten (C)<br />

mich dahin leitet und warum die vermeintlichen Para- Tod, übt er zwar einen Akt der Selbstbestimmung über<br />

doxa nur scheinbare sind.<br />

das eigene, aber noch mehr einen der Fremdbestimmung<br />

Ich bin selbst Familienvater. Mit meiner Frau habe ich<br />

drei Kinder. Wie wir es mit der Familie und den Kindern<br />

halten, ist für mich eine Gretchenfrage, an der sich eine<br />

ethische Entscheidung wesentlich zu messen hat.<br />

über anderer Leben, das seiner Familie, aus. Die selbst<br />

bestimmte Entscheidung jetzt hat gegenüber der selbst<br />

bestimmten Bindung früher ein geringeres Gewicht. Es<br />

ist deshalb kein Akt der Fremdbestimmung, sondern die<br />

Verwirklichung fortwirkender Selbstbestimmung, dem<br />

Familienvater oder der Mutter – den eigenen Tode nicht<br />

zu gewähren.<br />

Wie aber könnte ein Fall aussehen: Da hat ein Vater<br />

keine rechte Lust mehr auf das Leben und trifft eine Patientenverfügung,<br />

im Falle eines Unfalls keine Bluttransfusionen<br />

zuzulassen. Da geschieht dieser Unfall; verliert<br />

er Blut, ist er auf Transfusionen sofort angewiesen. Soll<br />

dann tatsächlich diese Verfügung maßgeblich sein? Soll<br />

dem Vater die mögliche und zumutbare Transfusion<br />

nicht angehen dürfen, weil er das so will und obwohl er<br />

so viele hinterlässt? Reicht es, zu sagen: „Er will das<br />

doch so“, um das Unglück der Frau und Kinder zu rechtfertigen?<br />

„Er will das doch so“ – das könnte reichen, wenn man<br />

Selbstbestimmung bloß als die prinzipiell unbegrenzbare<br />

Möglichkeit der Entscheidung eines Subjektes über all<br />

seine eigenen Angelegenheiten versteht. „Er will das<br />

doch so“ – ist das aber nicht vielleicht zu wenig? Ist das<br />

Individuum, das sonst so in Beziehungen so sehr eingebunden<br />

ist, in diesen Einschränkungen plötzlich wieder<br />

so unbegrenzt? Das Individuum als Autokrat über sich<br />

selbst – kann das die Selbstbestimmung sein, die wir<br />

meinen und wollen?<br />

Uns allen gebührt Freiheit. Wie aber unsere Freiheit<br />

beschaffen ist, bestimmen wir selbst. Das ist das Wunderbare<br />

an der Freiheit: dass sie nicht rasch verwelkt und<br />

gleich vergeht, sondern dass sie Früchte trägt, die von<br />

Dauer sind. Die reichste Frucht der Freiheit sind die Bindungen,<br />

die wir frei eingehen, und die Verantwortung,<br />

die wir frei übernehmen – die festen Räume der Entfaltung,<br />

die wir uns frei schaffen, und der befreiende Ausbruch<br />

aus der Enge der isolierten eigenen Existenz. Freiheit<br />

verwirklicht sich in der Verantwortung, die wir<br />

herstellen können. Aber Verantwortung prägt auch Freiheit.<br />

Sie erhebt die Verwirklichung der Freiheit vom<br />

Ausdruck in einem bestimmten Moment zur Entfaltung<br />

in der Zeit.<br />

Die selbst bestimmte Verantwortung ist daher nicht<br />

von jetzt auf gleich ohne Belang, nur weil wir das nicht<br />

mehr wollen, was wir frei gewählt haben. Für Juristen ist<br />

das selbstverständlich: Pflichten, die man übernimmt,<br />

beschränken die spätere Deutungshoheit über die eigene<br />

Autonomie. Nicht jedes juristische Ergebnis ist gleich<br />

ethisch richtig.<br />

Ich komme zurück zu dem Familienvater: Wer eine<br />

Familie gründet und Kinder in die Welt setzt, dessen<br />

Freiheit ist durch Verantwortung geprägt. Begibt er sich<br />

Freiheit in Verantwortung setzt dem eigenen Willen<br />

Grenzen. Auch für die Patientenverfügung gelten diese<br />

Grenzen. Es ist daher richtig, Patientenverfügungen in<br />

der Reichweite zu begrenzen: Nicht jeder Anlass genügt.<br />

Erst der unumkehrbar tödlich verlaufende Krankheitsprozess<br />

vermag die Grenzen der eigenen Selbstbestimmung<br />

aufzuheben. Erst er erlaubt die Verfügung; denn<br />

dann ist es die Frage, wann die Zeit zum Sterben kommen<br />

soll, nicht, ob.<br />

Eine zweite Frage ist zu stellen: Ist eigentlich eine Patientenverfügung<br />

Ausdruck der Selbstbestimmung, und<br />

wann kann sie es sein? Wie verlässlich spiegelt der niedergelegte<br />

den tatsächlichen Willen wider? Wie sehr<br />

vermag sie den eigentlichen Willen des Verfügenden zu<br />

treffen, der die Worte seiner Verfügung umsetzt? Ich will<br />

vor zu viel Optimismus warnen.<br />

(B)<br />

Die Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Kein<br />

Mensch steht für sich allein. Der Mensch schmiedet<br />

nicht an seinem Glück allein, sondern an dem vieler anderer<br />

– mehr oder minder – mit. Selbstbestimmung findet<br />

im Egoismus nicht ihren Grund, sondern ihre<br />

Grenze.<br />

Der Moment der Entscheidung über das eigene Leben<br />

ist kaum einmal in idealer Weise frei: Verfügen wir früh,<br />

dann liegt der „Schleier des Nichtwissens“ über uns.<br />

Denn wir verfügen über eine Situation, die wir vielleicht<br />

nicht einmal ahnen, für einen Menschen, der wir noch<br />

nicht sind. Wer weiß heute, wie er morgen denkt? Wer<br />

soll heute wissen, wie er morgen fühlt und was er morgen<br />

will? Der Wille von gestern wird nicht heute wahr,<br />

nur deshalb, weil er schriftlich niedergelegt ist. Verfügen<br />

wir erst spät, wenn die Situation schon da ist und der<br />

Grund unserer Verfügung bereits besteht, dann mag es<br />

Furcht sein und Sorge, Schmerz und Verzweiflung, die<br />

uns die Hand leiten. Dann betrifft der Schleier vielleicht<br />

nicht mehr unser Wissen, aber unser Wollen doch.<br />

(D)<br />

Der Respekt vor der Entscheidung des Nächsten gebietet<br />

auch die Akzeptanz der Umstände, unter denen er<br />

sie trifft, und der Möglichkeiten, die er hat. Ich warne<br />

davor, diese schriftliche Verfügungen als Dogma zu sehen,<br />

das schon deshalb gültig ist, weil es geschrieben<br />

wurde. Selbst beim Testament, bei dem es „nur“ um den<br />

Nachlass und nicht mehr um das Leben geht, ziehen wir<br />

uns nicht auf den bloßen Wortlaut zurück, sondern heben<br />

den mutmaßlichen Willen des Erblassers aus Sorge, seinen<br />

tatsächlichen Willen zu verfehlen, als Auslegungsgrundlage<br />

über den bloßen Text.<br />

Wo wie hier die Entscheidung für oder gegen das Leben<br />

zu fallen hat, sorge ich mich umso mehr darum, dass<br />

wir allein dem frühen Wort vertrauen und nicht dem späteren<br />

Ausdruck des Augenblicks: der Mimik und der<br />

Gestik. Ich werbe dafür, dass wir auf den ganzen Menschen<br />

hören, wenn er uns Zeichen sendet, dass er leben<br />

will. Was auf Papier steht, ist nicht bereits in Stein gemeißelt.

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