Plenarprotokoll 16/91 - Deutscher Bundestag
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<strong>91</strong>28 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – <strong>16</strong>. Wahlperiode – <strong>91</strong>. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007<br />
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert:<br />
gesetzliche Regelungen zu stärken und Rechtssicherheit (C)<br />
Das Wort erhält nun die Kollegin Irmingard Schewe- zu schaffen.<br />
Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,<br />
bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)<br />
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-<br />
NEN):<br />
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die<br />
Würde des Menschen ist unantastbar – so der Art. 1 unseres<br />
Grundgesetzes. Aber wie steht es um die Würde alter<br />
und kranker Menschen in unserem Lande? Viele können<br />
in Pflegeheimen nicht in Würde leben, andere in<br />
Krankenhäusern nicht in Würde sterben. Eine halbe Million<br />
Menschen wird in Heimen dauerhaft künstlich ernährt,<br />
oft ohne medizinische Indikation oder gegen ihren<br />
Willen.<br />
(Zustimmung der Abg. Monika Knoche [DIE<br />
LINKE])<br />
Das Selbstbestimmungsrecht bildet auch die Grundlage<br />
dafür, im Voraus Verfügungen über gewünschte<br />
oder unerwünschte Behandlungen für den Fall einer Einwilligungsunfähigkeit<br />
festzulegen. Die Verbindlichkeit<br />
solcher Verfügungen wurde vom Bundesgerichtshof im<br />
Jahre 2003 ausdrücklich bestätigt. Ungefähr 8 Millionen<br />
Menschen haben davon Gebrauch gemacht.<br />
Trotzdem herrscht nicht nur in der Bevölkerung große<br />
Unsicherheit. Es existiert auch viel Unkenntnis in der<br />
Medizin und bei den Gerichten. Bei einer Umfrage hielten<br />
die Hälfte der Ärzte, aber auch ein Drittel der Vormundschaftsrichter<br />
die von einer Patientin gewollte Beendigung<br />
der künstlichen Beatmung für strafbare aktive<br />
Sterbehilfe. Auch darum sind wir im <strong>Bundestag</strong> aufgefordert,<br />
die Patientenautonomie am Lebensende durch<br />
Meine Vorredner haben es gesagt: Das bedeutet nicht<br />
den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in der Vergangenheit<br />
vielfach behauptet wurde. Es stimmt auch<br />
nicht, dass jede Verfügung eins zu eins umgesetzt wird;<br />
denn nur unter vier Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung<br />
überhaupt wirksam. Erstens. Die in der Verfügung<br />
beschriebene Situation stimmt mit der konkreten<br />
Situation überein. Zweitens. Der Wille ist aktuell, und es<br />
gibt keine Anzeichen einer Willensänderung. Drittens.<br />
Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Verfügung<br />
unter Druck entstanden ist. Viertens. Es wird<br />
keine aktive Sterbehilfe verlangt.<br />
In Krankenhäusern werden häufig Menschen durch die<br />
Intensivmedizin am Sterben gehindert.<br />
Anstelle einer lebensverlängernden Therapie muss<br />
dann eine gute palliativmedizinische und pflegerische<br />
Versorgung in den Vordergrund treten, wie sie auch in<br />
„Es hängt immer weniger von den Krankheiten selbst vielen Hospizen geleistet wird. Ich habe den Eindruck,<br />
ab, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärzt- bis dahin sind wir uns in diesem Hause einig.<br />
lichen Maßnahmen“, sagt der Berliner Palliativmediziner<br />
Professor Christof Müller-Busch. So seien Sterben<br />
und Tod zu einer medizinischen Aufgabe geworden, und<br />
das Sterben in medizinischen Institutionen sei letztendlich<br />
immer nur dann möglich, wenn auf Maßnahmen<br />
verzichtet werde, die zu einer – wenn auch begrenzten –<br />
Lebensverlängerung beitragen könnten.<br />
Aber die in den letzten Monaten mit großer Heftigkeit<br />
geführte Auseinandersetzung drehte sich doch darum, ob<br />
eine solche Patientenverfügung nur für den Fall Gültigkeit<br />
haben darf, dass das Leiden einen irreversibel tödlichen<br />
Verlauf haben wird, wie es auch der Vorschlag des<br />
Kollegen Bosbach vorsieht. Genau wie vor kurzem drei<br />
Viertel der Befragten in einer Forsa-Umfrage sage ich<br />
(B) Aber gerade diese Verzichtentscheidung stellt an<br />
alle hohe ethische Anforderungen. Solange ein einwilligungsfähiger<br />
Mensch sich äußern kann, kann er oder sie<br />
jederzeit einen ärztlichen Eingriff ablehnen, selbst dann,<br />
wenn als Folge der Ablehnung der Tod eintritt. Das deut-<br />
dazu: Nein. Wenn ein einwilligungsfähiger Mensch lebensverlängernde<br />
Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser<br />
Wille auch geachtet werden, wenn die gleiche Person<br />
ihn im Voraus für eine bestimmte Situation festgelegt<br />
hat, in der sie keine Einwilligung mehr geben kann.<br />
(D)<br />
sche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen<br />
über seinen Körper höher als die Schutzpflicht anderer<br />
über sein Leben. Das heißt, niemand hat das Recht,<br />
gegen den Willen eines Patienten oder einer Patientin<br />
eine Behandlung durchzusetzen; ansonsten macht er sich<br />
strafbar.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und der FDP sowie bei Abgeordneten der<br />
SPD)<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)<br />
Achtet man den Willen, der aus einer Patientenverfügung<br />
hervorgeht, nur im Falle eines tödlichen Verlaufs<br />
des Leidens, dann bedeutet das für alle anderen eine unerlaubte<br />
Zwangsbehandlung. Eine Begrenzung der<br />
Reichweite auf Personen mit einer irreversibel tödlichen<br />
Krankheit lässt sich meines Erachtens nicht rechtfertigen.<br />
Sie wirft nicht nur große medizinische Probleme<br />
auf, wie uns in den letzten Tagen die Bundesärztekammer<br />
deutlich gemacht hat; sie wäre meines Erachtens<br />
auch ethisch ohne Begründung und verfassungsrechtlich<br />
unhaltbar. Bevor wir ein solches Gesetz beschließen,<br />
sollten wir wirklich ganz darauf verzichten;<br />
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-<br />
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der<br />
SPD, der FDP und der LINKEN)<br />
denn unser Grundgesetz verbietet jede Beschränkung der<br />
Selbstbestimmung, die nicht in der Verletzung anderer<br />
begründet ist. Darum darf es keine Reichweitenbeschränkung<br />
geben. Ich erinnere, wie vorhin der Kollege<br />
Kauch, an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />
von 2002 zu einem Angehörigen der Zeugen<br />
Jehovas, der eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnte.<br />
Das gilt nicht nur in der aktuellen Situation, son-