Plenarprotokoll 16/91 - Deutscher Bundestag
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<strong>91</strong>50 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – <strong>16</strong>. Wahlperiode – <strong>91</strong>. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007<br />
Kerstin Griese<br />
(A) fraktionsoffenen Nachmittag zum Thema Patientenver- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] und (C)<br />
fügung eingeladen, der, glaube ich, für viele von uns er- der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDkenntnisreich<br />
war. Wir haben dort eine gute Form der NIS 90/DIE GRÜNEN])<br />
Zusammenarbeit und der Diskussion gestartet.<br />
Das heißt, Fürsorge und Selbstbestimmung gehören<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ zusammen. Es gehört gerade zur Fürsorgepflicht der<br />
CSU und der FDP)<br />
Ärzte, dass sie die Selbstbestimmung achten, dass sie<br />
Leben erhalten und Sterben nicht verlängern. Zum Leben<br />
gehört das Sterben. Patientenverfügungen sollen<br />
dazu beitragen, dass Ärzte diese Fürsorgepflicht wahrnehmen.<br />
Es ist schon erwähnt worden: Auch die Kirchen geben<br />
christliche Patientenverfügungen heraus, seit 1999<br />
über 2,5 Millionen. Es gibt eine große Nachfrage. Die<br />
zweite Auflage wurde bezüglich der Reichweite erweitert,<br />
nämlich um zusätzliche Verfügungen für Situationen<br />
außerhalb der eigentlichen Sterbephase. Das heißt,<br />
das Bedürfnis danach ist anscheinend vorhanden und<br />
sehr groß.<br />
Mir ist ganz wichtig festzuhalten, dass wir uns darüber<br />
einig sein müssen, dass es niemals so etwas wie<br />
eine Pflicht zu einer Patientenverfügung geben darf.<br />
Niemals darf es so sein, dass ein Pflege- oder Altersheim<br />
verlangt, dass jemand, der dort aufgenommen wird, eine<br />
Patientenverfügung hat. Ich denke, das muss klar sein<br />
und dagegen müssen sich alle äußern.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ilja<br />
Seifert [DIE LINKE]: Das ist aber gang und<br />
gäbe!)<br />
– Aber es ist nicht anständig, wenn es gang und gäbe ist.<br />
Das darf nicht sein. Auch das muss man sagen dürfen.<br />
Wichtig ist mir: Wir leben nicht allein, wir sterben<br />
auch nicht allein. Zum Sterben gehören pflegende Angehörige,<br />
Freundinnen und Freunde, Ärztinnen und Ärzte,<br />
Seelsorgerinnen und Seelsorger. Ich glaube, wir sollten<br />
Selbstbestimmung und Fürsorge nicht gegeneinandersetzen.<br />
Das dürfen keine Gegensätze sein. Gerade am<br />
Ende des Lebens gehören Selbstbestimmung und Fürsorge<br />
zusammen. Krankheit, Sterben und Tod eines<br />
Menschen können nicht ohne seine soziale Einbettung,<br />
ohne die Fürsorge anderer Menschen verstanden werden.<br />
Ich will die Kammer für Öffentliche Verantwortung<br />
der Evangelischen Kirche in Deutschland zitieren, die<br />
unter dem Titel „Sterben hat seine Zeit“ ein interessantes<br />
Papier vorgelegt hat. Dort heißt es:<br />
Der Respekt vor der Selbstbestimmung der Patienten<br />
ist … geradezu eine Implikation der Fürsorge.<br />
Ich glaube, dass wir in der Frage der Verbindlichkeit<br />
und Gültigkeit sehr eindeutige Regelungen für Patientenverfügungen<br />
brauchen. Ich glaube, man kann meinem<br />
Kollegen Stünker nicht unterstellen, dass er in seinem<br />
Entwurf einen Automatismus befürwortet. Selbstverständlich<br />
muss eine Patientenverfügung immer interpretiert<br />
werden. Es muss immer die Möglichkeit bestehen,<br />
dass auch mündliche Äußerungen, körperliche Regungen<br />
oder Zeichen eines Patienten in die Interpretation<br />
der Patientenverfügung einfließen. Brigitte Zypries hat<br />
das vorhin die „Gesamtschau des Lebens“ genannt. Niemand<br />
wird sagen können, dass es einen absoluten Automatismus<br />
gibt.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP<br />
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />
(Joachim Stünker [SPD]: Das ist rechtlich<br />
Auch die, die sich für die Regelung einer Patientenverfügung<br />
aussprechen, werden, wie ich hoffe – zumindest ist<br />
das mein Eindruck aus dieser Diskussion –, sagen: Wir<br />
nicht zulässig!)<br />
müssen darauf achten, wie und wo sie zutrifft.<br />
(B) – Es ist sogar rechtlich nicht zulässig.<br />
Ich möchte noch einmal aus dem Papier der EKD zi- (D)<br />
Mein zweiter Punkt. Leben und Sterben haben ihre<br />
tieren:<br />
Zeit. Leben und Sterben liegen nach christlichem Selbst- Wenn ein urteilsfähiger Patient angesichts von<br />
verständnis in Gottes Hand. Aber dennoch dürfen und schwerster Krankheit und Leiden Nahrung verwei-<br />
müssen wir Menschen darüber nachdenken, wie wir stergert, verbietet es der Respekt vor dessen Selbstbeben<br />
wollen. Deshalb ist die Hospizarbeit, die hier schon stimmung, ihn in diesem Fall zwangsweise zu er-<br />
vielfach erwähnt wurde, so wichtig. Die Schriftstellerin nähren. Wenn wir aber in dieser Weise den Willen<br />
Hilde Domin hat einmal vom „kostbarsten Unterricht am und die Selbstbestimmung des urteilsfähigen Pa-<br />
Sterbebett“ gesprochen. Wenn wir diese Arbeit machen tienten respektieren, muss dies prinzipiell auch für<br />
und wenn wir damit in Kontakt kommen, belehrt uns das den Fall seiner Urteilsunfähigkeit gelten.<br />
über uns selbst. Ich bin froh, dass wir endlich begonnen<br />
haben, die Palliativmedizin und Hospizarbeit stärker zu<br />
(Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!)<br />
unterstützen.<br />
Das macht deutlich, dass Respekt vor dem Patienten<br />
und Fürsorge wichtig sind. Der aktuelle Wille hängt nun<br />
einmal sehr stark mit dem zusammen, was man vorher<br />
als Willen aufgeschrieben hat. Aber es kommen weitere<br />
Aspekte hinzu. Auch das muss ein verantwortlicher, fürsorglicher<br />
Arzt, ein Bevollmächtigter oder ein Betreuer<br />
klären.<br />
Ich will kurz auf die Bestimmung der Reichweite eingehen.<br />
Dieser Punkt, der der ethisch schwierigste Aspekt<br />
in dieser Debatte ist, macht mir persönlich – ich sage das<br />
ganz ehrlich – die meisten Probleme; da ich dieser Diskussion<br />
bereits seit 9 Uhr folge, kann ich sagen, dass sie<br />
eine der interessantesten ist, die wir je geführt haben.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der<br />
CDU/CSU)<br />
Ich glaube, dass ich in eine Patientenverfügung schreiben<br />
würde, dass sie für tödlich verlaufende Krankheiten