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Zu den bestehenden Traditionslinien gehörte die organisatorische<br />

und konzeptionelle Trennung von zwei grundlegenden<br />

Heimerziehungssystemen. Das eine System, die Sorge für Waisen,<br />

verlassene und vernachlässigte Kinder, bildete sich zu<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts als eigener Strang der Kinderfürsorge<br />

heraus. Dieser Strang gehörte zum Verantwortungsbereich<br />

der kommunalen Kinderarmenpflege und erfüllte seine<br />

Aufgaben durch Beaufsichtigung, Schutz und finanzielle Unterstützung<br />

von Kindern und Familien in deren Zuhause oder in<br />

Tageseinrichtungen für Kinder, in Säuglings- und Mütterheimen,<br />

in Pflegefamilien und Waisenhäusern. Seit dem Erlass des<br />

Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) im Jahr 1922, das für<br />

das ganze Deutsche Reich galt, gehörte dieser Aufgabenbereich<br />

zu den Pflichtaufgaben der neu geschaffenen Jugendämter.<br />

Die wesentliche Aufgabe der Heime war es, die Kinder<br />

zu anständigen Menschen heranzuziehen und sie am Ende der<br />

Heimerziehung in angemessene Arbeitsstellen zu vermitteln. 22<br />

Die Ziele und Mittel der Erziehung entsprachen dem, was als<br />

gesellschaftlich üblich galt. Vermittelt werden sollten die Regeln<br />

des Anstands, der Ordnung und des Gehorsams. Regelverstöße<br />

wurden durch Körperstrafen geahndet. In den häufig von evangelischen<br />

oder katholischen Stiftungen betriebenen Waisenhäusern<br />

gehörte auch immer die religiöse Unterweisung dazu.<br />

Die Hauptalternative zum Waisenhaus war die Pflegefamilie,<br />

die danach ausgesucht wurde, ob von ihr eine Erziehung zu<br />

Anstand, Sittlichkeit und Arbeitsamkeit erwartet werden konnte.<br />

Im zweiten System ging es dem gegenüber um die gefährdete<br />

und verwahrloste Jugend. Junge Menschen, die als Störer der<br />

gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen wurden, hatten<br />

schon über Jahrhunderte die Aufmerksamkeit der Obrigkeiten,<br />

der Polizei und der Strafgerichte auf sich gezogen. Reichseinheitliche<br />

beziehungsweise länderspezifische Regeln für den<br />

Umgang mit ihnen wurden aber erstmals in den 1870er Jahren<br />

im Zuge der Pädagogisierung des Strafrechts für Kinder und<br />

Jugendliche erlassen. Den Mittelpunkt dieses Systems bildete<br />

die sogenannte Zwangserziehung, die später Fürsorgeerziehung<br />

hieß. Sie kann als Reaktion des Staates auf eine zunehmend<br />

als Bedrohung wahrgenommene Bindungslosigkeit, Aufsässigkeit<br />

und Delinquenz der proletarischen Jugend im<br />

ausgehenden 19. Jahrhundert verstanden werden. 23 Der Staat<br />

bediente sich des Strafrechts und der Polizei, um ihrer Herr zu<br />

werden. Das Strafrecht wurde so zu einem der prägenden Elemente<br />

der späteren Jugendfürsorge. In mehreren Schritten<br />

weitete die staatliche Obrigkeit ihren Zugriff auf alle Kinder und<br />

Jugendlichen aus, die sie als in ihrer Entwicklung gefährdet<br />

(und gefährlich für Staat und Gesellschaft) oder als verwahrlost<br />

betrachtete. 24 Die zu diesem Strang gehörenden Heime, die<br />

sich selbst als Anstalten bezeichneten, sahen sich selbst zwar<br />

auch als pädagogische, dem Wohl und Schutz der Kinder und<br />

Jugendlichen dienende Heime, hatten aber immer auch disziplinierende<br />

und strafende Funktionen. Besserung und Erziehung<br />

durch Arbeit und Strafe bildeten die Leitideen. Im Raum der<br />

evangelischen Kirche übernahmen die schon aus älterer Zeit<br />

stammenden, oft auf dem Land gelegenen Rettungshäuser<br />

diese Funktion. Im katholischen Raum waren es häufig Klöster<br />

oder spezielle Anstaltsgründungen durch katholische Orden. In<br />

solchen Einrichtungen war das gesamte Leben, die Erziehung,<br />

Beschulung und Arbeit umfassend und den Anstaltsregeln entsprechend<br />

einheitlich organisiert und fand in abgegrenzten,<br />

häufig ummauerten Räumen statt.<br />

Weil die Gründe der Gefährdung und Verwahrlosung je nach<br />

Geschlecht in unterschiedlichen Aspekten gesehen wurden, –<br />

bei Jungen vor allem Diebstahlsdelikte und Arbeitsverweigerung,<br />

bei Mädchen primär Verstöße gegen Sexual- und Familiennormen<br />

– entwickelten sich die Anstalten geschlechtspezifisch<br />

getrennt. Auch dieser Strang griff, zumeist aus Kostenerwägungen,<br />

auf Pflegefamilien zurück. Die Familien erhielten hier<br />

zumeist den Auftrag, die Jugendlichen im eigenen Betrieb zu<br />

beschäftigen oder auszubilden.<br />

Mit der Aufteilung nach Typen von Hilfsbedürftigkeit und der<br />

Ausdifferenzierung der Anstalten nach verschiedenen Zwecken<br />

wuchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ausgeprägter nach dem<br />

Ersten Weltkrieg, der Bedarf nach Verfahren für die ›Vorsortierung‹<br />

der Mädchen und Jungen und zur Vorhersage des Erziehungserfolgs.<br />

Um Fehlplatzierungen zu vermeiden, war beispielsweise<br />

darüber zu entscheiden, ob ein gefährdetes Mädchen<br />

schon familientauglich oder noch anstaltsbedürftig war, ob die<br />

Verhaltensweisen eines Kindes noch als Ausdruck eines behebbaren<br />

Milieuschadens zu interpretieren seien, oder ob der Grund<br />

in den Anlagen des Kindes oder Jugendlichen zu suchen war.<br />

Um solche Fragen entscheiden zu können, wurden ab etwa<br />

1920 spezielle Aufnahme- und Beobachtungsheime zur Vorsortierung<br />

und Erziehungsprognose gegründet und nach ausgebildeten<br />

Fachkräften zur Absicherung von Diagnosen und Prognosen<br />

gesucht. Man fand sie in erster Linie in den in dieser Zeit<br />

an Bedeutung gewinnenden Psychiatern. Mit ihnen zog in die<br />

Anstaltserziehung ein völlig neues Denken ein, das sich an traditionellen<br />

psychiatrischen Kategorien orientierte. Mittels dieser<br />

wurden Kinder und Jugendliche häufig zu erblich vorbelasteten<br />

Wesen erklärt, zu Jugendlichen mit Wandertrieb, zu kindlichen<br />

Psychopathen, erblich vorbelasteten Arbeitsscheuen, notorischen<br />

Schulschwänzern, sexuell triebhaften Mädchen, pathologischen<br />

Lügnern und Dieben, Zornmütigen, Rachsüchtigen, Geisteskranken<br />

oder Schwachsinnigen. 25<br />

Die psychiatrischen Bewertungen dienten den Anstalten häufig<br />

für die Anordnung von Strafen, Demütigungen oder Verlegungen<br />

in angeblich besser geeignete Heime.<br />

Die Vielzahl an – auch nach verschuldet und unverschuldet differenzierenden<br />

– Diagnosen führte zu einer Differenzierung von<br />

Heimtypen und Betreuungsabteilungen: Einrichtungen oder<br />

Abteilungen für leichter gefährdete und schwer gefährdete, für<br />

noch normal begabte Kinder oder bereits sonderschulbedürftige<br />

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