1qDBULH
1qDBULH
1qDBULH
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
hafte Erfahrung meist leichter in sein Leben integrieren, als<br />
jene, die – unterbrochen nur durch Fluchten – von Heim zu<br />
Heim gereicht worden waren. Die Gesprächspartnerinnen und<br />
Gesprächspartner, die von ausgedehnten Phasen subkulturellen<br />
Lebens, von Inhaftierungen, Prostitution und einer unsteten<br />
Arbeitsbiographie berichteten, gehörten zu dieser Teilgruppe.<br />
Die meisten von ihnen fanden erst nach vielen Schleifen und<br />
Umwegen zu einer sie auch selbst befriedigenden Lebensführung<br />
zurück. Rückblickend berichteten auch sie von einem ›verpfuschten‹<br />
Leben. Geblieben ist auch die Wut auf eine Gesellschaft,<br />
die ›einem so etwas antun konnte.‹<br />
Am besten überstanden jene Kinder ihre Zeit in der Heimerziehung,<br />
die in ihren frühen Kindheitsjahren weder vernachlässigt,<br />
noch ausgestoßen worden waren und für die es weiterhin Personen<br />
im Hintergrund gab, die sich um sie sorgten und sich um<br />
sie kümmerten. Eltern, die sich aus beruflichen, finanziellen,<br />
familiären oder kriegsbedingten Gründen eine Zeitlang von<br />
ihrem Kind trennen mussten, holten ihre Kinder zurück, wenn<br />
die Notlage überwunden war. Waisen und ›unverschuldet‹ in<br />
Not geratene Kinder konnten zudem eher als andere mit ihnen<br />
wohlgesonnenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den<br />
Jugendämtern, Vormündern, Fürsorgerinnen und Fürsorgern<br />
rechnen. Auch diese Kinder erlitten manchmal Qualen an ihren<br />
Unterbringungsorten, zumal sie den Kontrast zwischen Familie<br />
und dem fremden Lebensort als unnatürlich und nicht gerecht<br />
erlebten. Die vorangegangenen positiven Erfahrungen in ihren<br />
Herkunftsfamilien und die nachfolgende Stabilisierung ermöglichten<br />
ihnen aber, die negativen Erlebnisse zu integrieren. Der<br />
weitere Lebensweg verlief bei den meisten dann auch in<br />
›geordneten‹ Bahnen.<br />
3.4.3 Ausgewählte Lebensläufe<br />
Eine Auswahl aus den 53 protokollierten Lebensläufen zur Veröffentlichung<br />
in dieser Dokumentation zu treffen, fiel schwer.<br />
Jeder einzelne ist eindrucksvoll und verweist sowohl auf Probleme<br />
wie (einige) positive Seiten der damaligen Jugendhilfepraktiken<br />
und der Heimerziehung. Die Entscheidung, die vier<br />
nachfolgenden Lebensgeschichten aufzunehmen, wurde getroffen,<br />
weil diese in Vorgeschichte, Verlauf und späterem Lebensweg<br />
besonders facettenreich sind. Sie beziehen sich sowohl auf<br />
Bremer als auch auf auswärtige Heime, verschiedene Heimtypen<br />
und ganz unterschiedliche Gesamtverläufe. Geachtet wurde<br />
zudem darauf, dass Frauen und Männer vertreten sind, es neben<br />
drei Fällen aus Bremen auch einen gibt, für den das Jugendamt<br />
Bremerhaven verantwortlich zeichnete, und schließlich, dass es<br />
sich um unterschiedliche Geburtsjahrgänge handelt. Am letzten<br />
Kriterium ist auch die Anordnung der Gespräche orientiert.<br />
Die in den Berichten genannten Bremer und Bremerhavener<br />
Heime werden in den Kapiteln 4.2 und 4.3 jeweils zeitspezifisch<br />
beschrieben.<br />
Gespräch 1: G4, Jg. 1935, zuständig JA Bremen<br />
Anliegen:<br />
Die Gesprächspartnerin wollte die eigene Geschichte erzählen.<br />
Stationen der Jugendhilfemaßnahmen:<br />
Zwei Pflegefamilien (1948 – 1951)<br />
Dorotheenheim (1951)<br />
Isenbergheim (1952 – 1955)<br />
Im Rahmen der Jugendhilfe in Arbeitsstellen bis zum 20. Lebensjahr;<br />
kurz vor der Volljährigkeit noch drei Monate Hamburg<br />
Nach Geburt des ersten Kindes (1957) Mütter- und Säuglingsheim<br />
Tenever.<br />
Aus der Kindheitsgeschichte<br />
Die Gesprächspartnerin wurde 1935 unehelich geboren und<br />
erkrankte im frühen Kindheitsalter an Kinderlähmung. Ihr Vater,<br />
an den sie keine Erinnerung hat, fiel einer Bombe zum Opfer.<br />
Seither lebte sie mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder bei der<br />
Mutter. Nach dem Tod des Vaters heiratete die Mutter erneut.<br />
Der Stiefvater brachte ebenfalls zwei Kinder mit in die Ehe. Als<br />
das Paar noch zwei Kinder bekam, lebten sie schließlich mit<br />
acht Personen in einer engen Wohnung.<br />
In den letzten Kriegsjahren kam das Mädchen im Rahmen der<br />
Kinderlandverschickung ins Erzgebirge, wo sie nacheinander in<br />
verschiedenen Familien lebte. Hier erfolgte auch ihre Einschulung.<br />
Nach zwei Jahren, 1944, wollte ihre Mutter sie wieder<br />
nach Hause holen. Diese trat die Reise bereits erkrankt an. Ihre<br />
Mutter litt an Tuberkulose (TB), die sich bald zu einer doppelseitigen<br />
TB entwickelte. An dieser verstarb sie 1948 in einem Bremer<br />
Krankenhaus.<br />
Nach dem Tod der Mutter waren sie und ihr leiblicher Bruder<br />
beim Stiefvater nicht mehr willkommen. Das eingeschaltete<br />
Jugendamt befand, dass die Wohnung für so viele Kinder viel<br />
zu klein sei. Für das 13-jährige Mädchen wurde deshalb eine<br />
Pflegefamilie gesucht, die man bei einer schon älteren Verwandten<br />
der Mutter fand.<br />
In den Pflegefamilien<br />
Die kinderlosen Pflegeeltern hatten nach einem jungen Mädchen<br />
gesucht. Das Jugendamt vergewisserte sich, dass sie das<br />
Mädchen auch tatsächlich nehmen wollten. Das wurde durch<br />
die Tatsache als gegeben angesehen, dass die neuen Eltern<br />
bereit waren, sie zur Konfirmation einzukleiden. Der Pflegevater<br />
war Alkoholiker und arbeitete auf einer Werft. Ihm musste<br />
sie jeden Tag sein Essen im Henkeltopf zur Arbeit bringen und<br />
wehe, sie kam unpünktlich. Wenn er betrunken war, litten seine<br />
Frau und das Mädchen unter seinen Schlägen. Wenige Monate<br />
nach der Aufnahme in die Familie bedrängte sie der Pflegevater,<br />
endlich Mama und Papa zu seiner Frau und ihm zu sagen. Als<br />
66