1qDBULH
1qDBULH
1qDBULH
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
sen, die autoritären und bürgerfernen Strukturen in der Politik,<br />
das veraltete ökonomische System, die Justiz, der elitäre auf<br />
Hochkultur setzende kulturelle Bereich, die Geschlechterhierarchie,<br />
die in der Familie ihren Ausgang nehmende Sexualunterdrückung<br />
und generell die Familie als Ort der Konservierung<br />
und Weitergabe autoritärer Strukturen.<br />
Zu einem spezifischen Bremer Ereignis wurden die sogenannten<br />
Straßenbahnunruhen. Aufgebrachte Schüler setzten sich,<br />
unterstützt vom linken Unabhängigen Schüler Bund (USB) und<br />
Klöckner-Arbeitern, gegen angekündigte Fahrpreiserhöhungen<br />
durch Sitzblockaden auf Schienen zur Wehr. Im Laufe der mehrtägigen<br />
Auseinandersetzungen gab es – von Teilen der Politik<br />
als unverhältnismäßig interpretierte – Polizeieinsätze und Festnahmen,<br />
auch von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.<br />
Beruhigt wurde die Situation erst durch einen Einsatz der<br />
Jugendsenatorin Mevissen, die sich der protestierenden Menge<br />
mutig entgegenstellte und seither als »einziger Mann im Senat«<br />
galt. 293 Die Protestbewegungen hatten hiermit noch nicht ihr<br />
Ende erreicht. Nach dem Attentat auf den Anführer der Studentenbewegung,<br />
Rudi Dutschke, im April 1968 in Berlin – Dutschke<br />
war mehrfach in Bremen gewesen und genoss hier großes<br />
Ansehen – entlud sich die Wut junger Menschen in einer Auslieferungsblockade<br />
gegen die als mitverantwortlich betrachtete<br />
Bild Zeitung. 1970 besetzten Jugendliche zudem verschiedene<br />
Häuser mit dem Ziel, in ihnen autonome Jugendzentren<br />
zu errichten. 294 Ab 1971 traten schließlich auch Frauen mit<br />
eigenen Protesten gegen den § 218 StGB hervor.<br />
Insgesamt veränderten die Ereignisse in der »Ära Koschnik«<br />
nicht nur die politische Kultur und Gesellschaft in erheblichem<br />
Umfang. Sie waren auch weichenstellend für Veränderungen in<br />
der Sozialarbeit sowie der Kinder- und Jugendhilfe und damit<br />
für die Heimerziehung.<br />
Die politischen und ökonomischen Entwicklungen Bremerhavens<br />
unterschieden sich nicht wesentlich von jenen auf Landesebene<br />
und in der Stadt Bremen. 295 Allerdings spielten hier<br />
die gesellschaftlichen Erschütterungen im Vorfeld und während<br />
der Schüler- und Studentenbewegung eine geringere<br />
Rolle. Der Wiederaufbau der Stadt galt Ende der 1950er Jahre<br />
im Wesentlichen als abgeschlossen. Nach dem enormen Bevölkerungswachstum<br />
in den 1950er Jahren pendelte sich die Bevölkerungszahl<br />
ein und blieb bis 1975 konstant. 296 Der Flüchtlingszustrom<br />
hatte die Stadt zwar vor erhebliche Probleme für die<br />
Wohnraumbeschaffung gestellt, führte aber den klassischen<br />
Bremerhavener Wirtschaftsbereichen, Hafenumschlag, Schiffbau<br />
und Fischerei, die benötigten Arbeitskräfte zu und gab<br />
ihnen hierüber Auftrieb. 297 Nachholbedarfe bestanden in Bremerhaven<br />
in den 1960er Jahren vor allem in Bereichen der sozialen<br />
Infrastruktur, dem Sportstätten-, Schul- und Krankenhausbau<br />
sowie bei Kindergartenplätzen für berufstätige Mütter. Der<br />
notwendige Aufbau konnte, wie in der Stadt Bremen, nur mittels<br />
erheblicher Schuldenaufnahmen gedeckt werden und führte<br />
auch hier zu einer erheblichen Vermehrung des Personals der<br />
Kommune und damit der Personalkosten.<br />
4.3.1.2 Das Wohlfahrts- und Jugendwesen<br />
in den 1960 er und frühen 1970er Jahren<br />
1959 fiel, wie schon dargelegt, das bislang von der CDU verwaltete<br />
Wohlfahrtsressort an die Senatorin für Jugend, Annemarie<br />
Mevissen. Als Senatorin für Wohlfahrt und Jugend unterstanden<br />
ihr nun die landespolitischen Aufgaben für den gesamten<br />
Sozial- und Jugendbereich sowie sämtliche nachgeordneten<br />
Ämter und Dienstellen: Das Wohlfahrtsamt mit diversen Bezirken<br />
und Außenstellen, das Amt für Unterhaltssicherung, das<br />
Jugendamt, die Familienfürsorge Bremen, das Amt für Leibesübungen,<br />
die Bremer Mütterschule und die Erziehungsberatungsstelle<br />
Bremen sowie das Amt für Vertriebene, Flüchtlinge<br />
und Familie. Um sich der Terminologie des novellierten Bundessozialhilfegesetzes<br />
von 1961 anzupassen, wurde das Wohlfahrts -<br />
amt 1963 in »Sozialamt« und das Gesamtressort 1972 in »Der<br />
Senator für Soziales, Jugend und Sport« umbenannt. Ungeachtet<br />
der sich allmählich ausdifferenzierenden Binnenorganisation<br />
von Abteilungen, Ämtern und Dienstellen blieb es aber bis<br />
1975 bei diesem organisatorischen Zuschnitt. 298 Auch personell<br />
kam es in der Leitung des Ressorts zu keiner Veränderung. Die<br />
Senatorin schied Anfang 1975, kurz nach ihrem 60. Geburtstag,<br />
freiwillig aus dem Amt, im Bewusstsein, dass »die Nachkriegs-<br />
Aufbauphase zu Ende gegangen war« und eine neue Generation<br />
mit neuen Ideen und Überzeugungen an die Macht drängte. 299<br />
Den Schwerpunkt ihrer Arbeit sah die Senatorin in den 1960er<br />
Jahren primär in der Anpassung des Wohlfahrtswesens an die<br />
neuen Optionen des Bundessozialhilfegesetzes, das hieß im<br />
Aufbau einer moderneren Altenhilfe und beschützender Werkstätten<br />
für behinderte Menschen sowie einer Hilfestruktur für<br />
wohnungslose Menschen. In der Jugendpolitik waren die<br />
landesgesetzlichen, organisatorischen und konzeptionellen<br />
Konsequenzen aus dem neuen Jugendwohlfahrtsgesetz sowie<br />
weiteren Gesetzesnovellierungen im Bereich des Nichtehelichen-<br />
und des Unterhaltsrechts zu ziehen. Zudem musste das<br />
institutionelle System dem wachsenden Bedarf junger Familien<br />
nach Förderung und Unterstützung angepasst werden. Die<br />
Plätze in Tagesbetreuungseinrichtungen für Kinder wurden<br />
erhöht und gleichzeitig modernisiert, wohnumfeldnahe Spielplätze<br />
geschaffen, Maßnahmen zur Familienerholung eingeleitet<br />
und Mütterschulen sowie Erziehungsberatungsstellen erweitert.<br />
300<br />
Erst in den 1970er Jahren traten im Kontext der Jugendunruhen<br />
wieder Fragen der Jugendförderung und der erzieherischen<br />
Hilfen in den Mittelpunkt. Diese Schwerpunktsetzungen begleitend<br />
und unterstützend ging es dem Ressort zudem um Qualifizierungsaspekte<br />
für das Personal sowie um eine bessere Zusammenarbeit<br />
zwischen den einzelnen Ämtern und Dienststellen. 301<br />
95