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Tätowieren war wie eine Sucht<br />

Tätowieren war, nach Auskunft einer Gesprächspartnerin,<br />

im Isenbergheim üblich. Die Mädchen machten es wechselseitig<br />

mit Nadeln und Tinte. »Es war wie eine Sucht.« Gelegenheiten<br />

boten sich abends, da dann die Mädchen auch alleine<br />

in den Zimmern sein konnten. Es gab Zwei- und Dreibettzimmer.<br />

Sie selber ließ sich ihre Tätowierungen später<br />

weglasern, leidet aber noch heute an den Narben. (G21, JA<br />

Bremen, 1970 – 1972)<br />

Entweichungen<br />

Das oben schon angesprochene ›Abhauen‹ tauchte in zahlreichen<br />

Gesprächen auf und war für die Jugendlichen besonders<br />

in den geschlossenen Einrichtungen ein alltägliches Thema.<br />

Viele Gespräche drehten sich darum, wie das Weglaufen am<br />

besten gelingen könnte. Wer erwischt wurde, hatte mit Strafen,<br />

nicht selten mit Verlegungen zu rechnen. Das Risiko wurde aber<br />

in Kauf genommen.<br />

Weglaufen konnte für die Jugendlichen etwas höchst Unterschiedliches<br />

bedeuten. Oft handelte es sich eigentlich um ein<br />

Hin- oder Zurücklaufen nach Hause oder zu einem Freund<br />

beziehungsweise zu einer Freundin. In anderen Fällen entfloh<br />

man aus einer unerträglichen Situation. Das Motiv konnte aber<br />

auch Abenteuerlust, der Wunsch, mit anderen etwas zu erleben,<br />

sich vor anderen zu bewähren oder Protest gegen ein<br />

aktuelles Geschehen im Heim sein. Unabhängig von den<br />

Beweggründen war das häufigste Ergebnis, dass die Jugendlichen<br />

von der Polizei aufgespürt, bestraft und gegebenenfalls<br />

verlegt wurden.<br />

Weglaufen wurde als etwas Übliches hingenommen<br />

Zum Alltagsgeschäft der Mädchen im Isenbergheim gehörte<br />

es, sich über Möglichkeiten zum Weglaufen auszutauschen.<br />

Die Gesprächspartnerin schilderte, dass selbst ein seltenes<br />

Ereignis, eine Party auf der Terrasse, unter diesem Gesichtspunkt<br />

betrachtet wurde: Kann man die Drähte und Bänder<br />

für die Dekoration vielleicht dazu nutzen, über die Mauer zu<br />

kommen Die besten Gelegenheiten boten die Spaziergänge.<br />

Nur einer einzigen netten Erzieherin gegenüber gab<br />

es zwar Skrupel, sie durch Weglaufen in Bedrängnis zu bringen,<br />

aber der Drang dazu überwog dann doch. Eine andere<br />

Möglichkeit bot sich bei der wöchentlichen Kleidungsausgabe<br />

in der Kleiderkammer. Hier durften sich die Mädchen<br />

etwas aussuchen, nur keine Hosen, die das Ausreißen über<br />

die Mauer erleichtert hätten. Dabei wurde phantasiert, wie<br />

sie der Frau an der Ausgabe ein Betttuch überwerfen könnten<br />

und ihr den Schlüssel abnehmen würden. Weglaufen<br />

wurde vom Heim als etwas Übliches hingenommen. »Man<br />

wurde aufgegriffen und wieder zugeführt, fertig aus.« (G21,<br />

JA Bremen, 1970 – 1972)<br />

Ausbruch im Kollektiv<br />

Aus seiner Zeit in einem Göttingen Erziehungsheim erinnerte<br />

sich ein damals 15-Jähriger: »Zum Weglaufen haben wir<br />

uns immer mit drei oder vier Jungen zusammen getan. Manchmal<br />

wurden wir gleich geschnappt, ich war aber auch mal ein<br />

halbes Jahr unterwegs. Wir haben dann immer in Scheunen<br />

übernachtet und uns vom Klauen ernährt. Ging ja nicht anders.<br />

Das war dann meistens aber auch der Anlass dafür, dass man<br />

geschnappt wurde.« (G13, JA Bremen, 1959 – 1961)<br />

Solidarität im Heim<br />

Unter den Kindern und Jugendlichen herrschten nicht nur<br />

Gewalt und Missgunst. Die repressiven Methoden führten teilweise<br />

dazu, dass sich die Jugendlichen als gegen die Erzieher<br />

gerichtete Schicksalsgemeinschaft erlebten. Davon abgesehen<br />

bildeten sich auch vielfach positiv besetzte Freundschaften mit<br />

wechselseitiger Hilfe und emotionaler Unterstützung.<br />

Positiver Zusammenhalt, wenn es gegen das<br />

Heim ging<br />

In einer abschließenden Bewertung seiner Zeit im Ellener<br />

Hof kam der Gesprächpartner zu dem Schluss, dass es nichts<br />

Nettes gegeben habe. Wenn doch, war es von den Jugend -<br />

lichen selbst gemacht oder spielte sich beim Ausgang ab.<br />

»Es war im Großen und Ganzen ein reiner Kasernenbetrieb.<br />

Gelernt hat man allenfalls, sich durchzusetzen. Gut waren nur<br />

der Zusammenhalt unter uns Jungen, wenn es gegen das Heim<br />

ging und die Freundschaften zu Einzelnen.« (G14, JA Bremerhaven,<br />

1966 – 1969)<br />

3.3.11 Sexualität, Sexualerziehung<br />

und sexuelle Gewalt<br />

Die Tabuisierung von Sexualität, die geringe Neigung Erwachsener,<br />

mit Kindern über Fragen der Sexualität, über Körperlichkeit<br />

und Intimität in einer Kindern und Jugendlichen zugänglichen<br />

Sprache zu sprechen, war kein Alleinstellungsmerkmal der<br />

Heime in den 1950er und 1960er Jahren.<br />

Überall in der Gesellschaft, in den Schulen ebenso wie in den<br />

Familien, wurde Sexualität kaum offen angesprochen. Wenn<br />

dies doch einmal geschah, dann primär, um vor ihren unerwünschten<br />

Folgen, der zu frühen Bindung und den Gefahren<br />

der Verführung zu warnen. Die Situation in den Heimen stellte<br />

sich dennoch anders als in Familien dar: Viele ältere Kinder und<br />

Jugendliche, insbesondere Mädchen, kamen bereits – zumeist<br />

ungerechtfertigt – mit dem Makel der sexuellen Verwahrlosung,<br />

also einem Tabubruch, in die Heimerziehung. In der Folge<br />

konnte die Existenz von Sexualität zwar nicht verschwiegen<br />

werden, als Heimeinweisungsgrund war sie aber zu bekämpfen<br />

und zu unterdrücken. Für die meisten Heime galt zudem, dass<br />

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