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Erst 1961 führte der Bundesgesetzgeber eine bundeseinheitliche<br />
Heimaufsicht ein und definierte deren Kompetenzen. 80 Das<br />
Gesetz übertrug den Landesjugendämtern die Heimaufsicht<br />
über alle Heime, auch die in freier Trägerschaft. Die Aufgabe<br />
des Amtes bestand darin, dafür zu sorgen, dass in den Heimen<br />
das leibliche, geistige und seelische Wohl der Minderjährigen<br />
gewährleistet waren. Zu diesem Zweck erfolgten zumeist angemeldete<br />
Besuche in den einzelnen Heimen. Bei diesen Anlässen<br />
sollten sich die Vertreter des Amtes ein Urteil über die Anstalt<br />
und ihr Personal bilden. Zu den Maßnahmen, die zur Durchsetzung<br />
der Aufgaben nach der Novelle von 1961 getroffen<br />
werden konnten, zählten, neben der Entlassung von Personal,<br />
die Erteilung von Auflagen oder die Verhängung von Bußgeldern.<br />
Zudem war es möglich, gefährdete Kinder aus dem Heim<br />
zu nehmen und die Einrichtung zeitweilig und vollständig zu<br />
schließen.<br />
Mit Blick auf die individuelle Aufsicht über die Zöglinge regelte<br />
die Novelle, dass das LJA einmal jährlich dem Vormundschaftsgericht<br />
über die persönliche Entwicklung jedes Heimzöglings<br />
Bericht erstatten musste.<br />
2.3 Pädagogische Leitfiguren in den ersten Nachkriegsjahrzehnten<br />
Der folgende Abschnitt stellt sowohl die allgemeinen als auch<br />
die spezifisch in der Heimerziehung verfolgten Erziehungsvorstellungen<br />
der 1950er und 1960er dar. Als Grundlage dient eine<br />
Expertise von Carola Kuhlmann, die im Auftrag des RTH angefertigt<br />
wurde und die folgenden Ausführungen detailreich<br />
ergänzt. 81<br />
2.3.1 Allgemeine Ordnungsvorstellungen<br />
in der Heimerziehung<br />
Die Heimerziehung übernahm, wie bereits dargestellt, eine<br />
doppelte Funktion. Zum einen diente sie der Sorge und Unterstützung<br />
bedürftiger Kinder, zum anderen wurde sie als Mittel<br />
der Sozialdisziplinierung von Jugendlichen eingesetzt, die<br />
gegen vorherrschende Normvorstellungen verstießen.<br />
Diese Normvorstellungen waren bis in die späten 1960er Jahre<br />
hinein geprägt von konservativen Werten wie Fleiß, Pünktlichkeit,<br />
Ordnung, Gehorsam und einer strengen Sittsamkeit, die<br />
gleichzeitig die zentralen Erziehungsziele darstellten. 82 Zur<br />
Durchsetzung der Erziehungsziele wurden Methoden angewendet,<br />
die vom heutigen Verständnis einer kindgerechten<br />
Erziehung weit entfernt sind. So galten, wie in Kapitel 2.2.2 dargestellt,<br />
unter gewissen Voraussetzungen und Einschränkungen<br />
das körperliche Züchtigungsrecht, Essensentzug und<br />
Arreststrafen als gesellschaftlich beziehungsweise juristisch<br />
akzeptierte Formen der Erziehung.<br />
Die besondere Situation in geschlossenen Heimen, vor allem in<br />
freier Trägerschaft, ermöglichte dabei Repressionen durch das<br />
Erziehungspersonal, die ohne Konsequenz für die Verantwortlichen<br />
leicht über das seinerzeit allgemein akzeptierte Maß hinaus<br />
eingesetzt werden konnten (siehe hierzu Kapitel 3.3.6).<br />
Ein Blick darauf, unter welchen Leitgedanken die Pädagogik in<br />
den 1950er und zum Teil der 1960er Jahren stand, ist aufschlussreich<br />
für das gesamte System der damaligen Heimerziehung<br />
und der angewendeten Methoden. Christian Schrapper<br />
führte in diesem Zusammenhang aus, dass »nicht die Sozialpädagogik<br />
die wissenschaftliche Leitdisziplin der ›Heimpädagogik‹<br />
dieser Jahre [war, R.F.], sondern eine an medizinisch geprägten<br />
Vorstellungen pathologischer Abweichung in Verhalten und ›Charakter‹<br />
orientierte Verwahrlostenpädagogik.« 83<br />
Abweichungen von den oben genannten Normen galten als<br />
Zustand der Verwahrlosung. Da dieser Terminus jedoch nicht<br />
eindeutig definiert war, bot er den an der Fürsorgeerziehung<br />
beteiligten Personen – von der Verwaltung bis zu den Erziehern<br />
– Raum für subjektive Auslegungen und Interpretationen.<br />
In einem Artikel aus einem Standardwerk für die Heimerziehung,<br />
das renommierte Wissenschaftler in den 1950er Jahren<br />
verfassten, werden drei Aspekte dieses Begriffs deutlich:<br />
»Ob seine [des Zöglings, R.F.] Verwahrlosung entscheidend<br />
durch seine Veranlagung bestimmt ist, kann daher nur in<br />
extremen Grenzfällen krankhafter seelischer Abartigkeit,<br />
deren Erbbedingtheit feststeht, mit einiger Sicherheit festgestellt<br />
werden. In allen anderen Fällen bleibt grundsätzlich<br />
die Möglichkeit offen, dass es unter anderen als den gegebenen<br />
Erziehungsbedingungen nicht in Konflikt mit den<br />
Gemeinschaftsansprüchen geraten wäre, und, wenn vielleicht<br />
auch nicht immer reibungslos, trotz anlagebedingter<br />
Schäden, die Einordnung in die Gemeinschaft gefunden<br />
hätte.« 84<br />
Erstens belegt die Sprache die Kontinuität erbbiologischer<br />
Argumentationen und der Pathologisierung in der damals zeitgenössischen<br />
Pädagogik. Zweitens steht eindeutig nicht das<br />
Kind, sondern die Gemeinschaft im Vordergrund. Und drittens<br />
deutet sich eine Unterscheidung in ›subjektive‹ und ›objektive‹<br />
Verwahrlosung an. 85 Als ›objektiv‹ betrachtete man eine Verwahrlosung<br />
dann, wenn sie auf die sozialen beziehungsweise<br />
familiären Bedingungen, unter denen ein Kind lebte, zurückgeführt<br />
werden konnte.<br />
Hierzu rechnete man bereits das Aufwachsen bei Alleinerziehenden,<br />
wirtschaftliche und kriegsbedingte Not oder das als<br />
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