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»In der Erziehungsfürsorge finden die störenden und gefährdenden<br />
Einflüsse der Umwelt und die Unruhe und Unsicherheit<br />
vieler Menschen unserer Zeit ihren spürbaren Niederschlag.<br />
Die Schwäche mancher Familienbindungen, der<br />
Mangel an Erziehungskraft vieler Eltern, die Verwahrlosung<br />
schon im frühen Alter von 12 bis 15 Jahren, die Zunahme<br />
der ungesicherten und unvorbereiteten Frühehen und die<br />
Zahlen der noch sehr jungen Schwangeren, die nach wie vor<br />
sehr hohe Zahl von Selbstmorden und Selbstmordversuchen<br />
Jugendlicher – allein die Jugendkriminalität ist leicht rückgängig<br />
– sind nur bruchstückhafte Hinweise für die schwierige<br />
und umfassende Aufgabenstellung, der das Jugendamt<br />
im erziehungsfürsorgerischen Bereich gerecht werden<br />
muss.« 315<br />
Andere Berichte machten die gleichen Phänomene für die »sich<br />
häufende Unfähigkeit, Spannungen durchzustehen«, für »eine<br />
augenblicksorientierte Haltung der Jugendlichen«, für »Kurzschlusshandlungen<br />
bei Entweichen aus Elternhäusern und Heimen und<br />
bei der Aufgabe von Arbeitsplätzen«, für die »Zunahme der heimlichen<br />
Prostitution« und die wachsende Zahl »der durch Sittlichkeitsdelikte<br />
und –verbrechen früh geschädigter Mädchen« verantwortlich.<br />
316<br />
Charakteristisch war eine Mischung aus skeptischem Blick auf<br />
neue gesellschaftliche Bedingungen, die von den Menschen<br />
erhöhte Anpassungsleistungen erforderten, und einer vorwurfsvollen<br />
Haltung gegenüber Personen, die diese geforderten<br />
Anpassungen nicht erbringen konnten. 317 Angesichts solcher<br />
pauschalisierenden Diagnosen blieben auch die Konsequenzen<br />
uneindeutig. Wo Konsequenzen gezogen wurden, bezogen sie<br />
sich auf institutionelle Verbesserungen: Leistungsfähigere<br />
Heime, eine bessere Unterstützung der Eltern durch Ausbau der<br />
Erziehungsfürsorge und geringere Fallzahlen für die Sachbearbeiter<br />
im Jugendamt waren die Forderungen. Zudem sollte »häufiger<br />
auf schlichte Maßnahmen mit Zwangscharakter« zugunsten<br />
einer »einsichtsvollen Zusammenarbeit mit den Eltern und Jugendlichen«<br />
verzichtet und höhere Anforderungen an »persönliche<br />
Qualitäten, an Ausbildung und Fortbildung der Mitarbeiter« gestellt<br />
werden. 318 Für die Betreuung und Versorgung von Kindern wurden<br />
zur Kompensation elterlichen Versagens »möglichst familiennahe<br />
Lösungen und persönliche Hilfen, um die gesunde Entwicklung<br />
dieser Kinder im Ganzen zu verbürgen« gefordert.<br />
Nach einer Übergangszeit, in der man im Jugendamt zur Lösung<br />
der Probleme auch »an neue Wege wie vertiefte Einzelfallhilfe,<br />
psychotherapeutische Behandlungen im Einzelfall, soziale Gruppenarbeit<br />
und Gemeinwesenarbeit« dachte, wendete sich der Blick<br />
dann auf die neuen Jugendphänomene: 319<br />
»Ein erheblicher Teil der entwicklungsgestörten Jugendlichen<br />
war drogensüchtig oder schwer suchtgefährdet. Die Sucht<br />
zeigte sich in der Regel als eine Reaktion auf die Ausweg -<br />
losigkeit der persönlichen Situation. Die festzustellende<br />
Zunahme brutaler Gewalthandlungen junger Menschen,<br />
ihre wachsende Neigung zum gewaltsamen Ausbrechen aus<br />
den gesellschaftlichen Normen, hat offenbar die gleiche<br />
Ursache.« 320<br />
Erst am Ende der Periode kam es zur Reflexion konkreter<br />
Umweltbedingungen als mitverantwortlicher Ursachen für die<br />
Gefährdung. Auffällige Verhaltensweisen erklärte man jetzt<br />
auch mit Benachteiligungs- und Deklassierungsprozessen und<br />
verwies auf Wechselwirkungen zwischen Person, Gesellschaft,<br />
Kultur und den Werthaltungen des konkreten sozialräumlichen<br />
Umfelds. 321 Zudem geißelte man die Schulen, die ihren Erziehungsauftrag<br />
vernachlässigten und mahnte 1974 die Schaffung<br />
von Beschäftigungsmöglichkeiten für nicht ausbildungsfähige<br />
Jugendliche an. 322 Schlüssige Konsequenzen aus solchen Erklärungen<br />
wurden in diesen Jahren nur wenige gezogen. Zwar<br />
wurde nach besseren Möglichkeiten zur Verselbständigung von<br />
Jugendlichen als Voraussetzung für ein Leben in eigener Verantwortung<br />
gesucht, daneben blieben aber auch individualisierende<br />
Hilfekonzepte bestehen: »Pädagogische, therapeutische<br />
und ärztliche Hilfen als Voraussetzung für allmähliches Umlernen<br />
und Neulernen und für das Training angemessener Verhaltensqualitäten«<br />
wurden zur neuen Option. Sie sollte im »Schon- und<br />
Schutzraum« heilpädagogischer Heime realisiert werden. 323<br />
4.3.2 Institutionelle und<br />
konzeptionelle Entwicklungen<br />
in den bremischen Heimen<br />
Nachdem die Aufbauperiode in den 1950er Jahren überwunden<br />
war und sich gewisse Routinen in der Arbeit durchgesetzt<br />
hatten, konnte in den 1960er Jahren daran gedacht werden, die<br />
letzten Kriegsschäden zu beseitigen, Gebäude zu sanieren und<br />
Räume zu modernisieren. In diesem Zuge verbesserten sich allmählich<br />
die äußeren Bedingungen für die Kinder und Jugendlichen.<br />
Der äußeren Konsolidierung entsprachen auch tastende<br />
Versuche, sich von der ›Notpädagogik‹ der Nachkriegsjahre zu<br />
lösen und sich mit neuen Ideen auf die Bedürfnisse einer neuen<br />
Generation einzustellen. Die ordnungspolitischen Prämissen<br />
und die ungebrochenen Moralvorstellungen in der Gesellschaft<br />
engten solche Versuche aber noch ein. Der Spielraum für grundlegende<br />
pädagogische Reformen war in dem – so wenig von<br />
Politik und Gesellschaft beachteten und unterfinanzierten –<br />
Feld der Heimerziehung noch sehr gering. Dies galt umso mehr,<br />
weil nahezu alle Heime einen ständigen Kampf um hinreichend<br />
qualifiziertes Personal zu führen hatten. Eine Phase der Neuorientierung<br />
setzte in Bremen erst im Zeitraum zwischen 1972<br />
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