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3.2 Die Heimeinweisungsgründe<br />

Dieser Abschnitt behandelt die Hintergründe der Ersteinweisung<br />

in ein Heim oder – seltener – in eine Pflegefamilie. Ein<br />

statistischer Überblick zeigt zunächst die Situation der Kinder<br />

oder Jugendlichen vor Beginn ihrer ersten Jugendhilfemaßnahme.<br />

Beispielhaft werden dann die von den Anrufenden<br />

angegebenen oder vermuteten Gründe für ihre Herausnahme<br />

aus der Familie und über den Ort ihrer Erstbringung skizziert.<br />

Das Kapitel 3.4 greift die »Vorgeschichte« der Kinder – so der in<br />

Jugendämtern gebräuchliche Terminus – noch einmal für einen<br />

Bericht über typische Wege durch die Jugendhilfe im biographischen<br />

Zusammenhang auf.<br />

Die sehr individuellen Hintergründe der Heimeinweisung werden<br />

in der nachfolgenden Übersicht zu acht, nicht immer trennscharfen,<br />

Kategorien zusammengefasst. Bezugsgruppe sind<br />

die 53 Anrufenden, mit denen ausführliche Gespräche geführt<br />

wurden und über deren Erfahrungen in den Einrichtungen der<br />

Jugendhilfe im Kapitel 3.3 näher berichtet wird.<br />

Tab. 3: Wesentliche Gründe für die öffentliche Erziehung<br />

Wesentlicher Grund<br />

Anzahl<br />

der Fälle<br />

Direkt nach der Geburt verlassen oder abgegeben 10<br />

Vernachlässigung und unzureichende<br />

14<br />

Versorgung<br />

Abgabe eines unerwünschten Kindes 7<br />

Erzieherische Überforderung der Mutter/Eltern 5<br />

Krisenhafte Zuspitzung in der Familie 5<br />

Vollwaisen, Erkrankungen und berufliche Gründe 12<br />

Gesamt 53<br />

Direkt nach der Geburt verlassen oder abgegeben<br />

Zehn der Gesprächspersonen lebten als Kinder nie oder nur<br />

sehr kurze Zeit in ihrer Herkunftsfamilie. Ihre, oft noch sehr jungen,<br />

Mütter fühlten sich mit der Erziehung eines Säuglings<br />

überfordert, hatten andere Pläne für ihre Zukunft oder resignierten<br />

– in einer Zeit, in der eine uneheliche Geburt noch als<br />

Schande betrachtet wurde – gegenüber den Vorwürfen ihrer<br />

eigenen Eltern. Zu dieser Gruppe gehörten auch Kinder, deren<br />

Mütter versuchten, dem Nachkriegselend durch eine Beziehung<br />

zu einem amerikanischen oder englischen Besatzungsmitglied<br />

zu entkommen. Manche dieser Kinder erlebten noch eine kurze<br />

Zwischenphase bei Verwandten, früher oder später gelangten<br />

sie zumeist in ein Säuglingsheim und von diesem aus in ein Kinderheim.<br />

Zum gemeinsamen Schicksal dieser Kinder gehört,<br />

dass sie nichts oder nur wenig über ihrer Familiengeschichte<br />

und über die Hintergründe ihrer Abgabe wissen.<br />

Beispiele:<br />

1. Der Junge wurde von einer 14-jährigen Mutter geboren.<br />

Er erfuhr später, dass sein Stiefgroßvater (die Mutter lebte<br />

noch bei ihrer Mutter und dem Stiefvater) sein Vater ist. Das<br />

Familienproblem wurde von der Familie durch die »Abschiebung«<br />

des Kindes ›gelöst‹. Der Gesprächspartner weiß nur,<br />

dass er gleich nach der Geburt in ein Krankenhaus kam.<br />

Er meint, dort bis zum dritten Lebensjahr geblieben zu sein,<br />

vielleicht hat es sich aber auch um ein Säuglingsheim<br />

gehandelt. (G15, JA Bremen, 1946)<br />

2. Das Mädchen wurde in der Nachkriegszeit von einer sehr<br />

jungen Mutter geboren. Die Mutter gab sie in den ersten<br />

Lebensmonaten häufig zu Bekannten und Freundinnen.<br />

Das Jugendamt reagierte mit der Einrichtung einer Amtsvormundschaft<br />

und der Überweisung in das Bremerhavener<br />

Säuglingsheim. Die Mutter lernte dann einen amerikanischen<br />

Besatzungssoldaten kennen, entschloss sich, ihm in<br />

die USA zu folgen und ließ ihr Kind dauerhaft in staatlicher<br />

Obhut. (G41, JA Bremerhaven, 1949)<br />

3. Der Junge wurde im Krieg geboren. Als seine Mutter als<br />

Funkerin eingezogen wurde, ließ sie ihn unbeaufsichtigt auf<br />

dem Hauptbahnhof zurück. Eine im Bahnhof beschäftigte<br />

Rote Kreuz Schwester fand ihn, ›verliebte‹ sich in den Säugling<br />

und nahm ihn mit in ihre kinderlose Familie. Die Familie<br />

wurde auch offiziell zu seiner Pflegefamilie. (T5, JA Bremen,<br />

1942)<br />

Vernachlässigung und schlechte Versorgung in der Familie<br />

Diese Gruppe von 14 Personen wurde von den Eltern, Müttern<br />

oder Stiefeltern aus den noch heute typischen Anlässen<br />

getrennt. Das Jugendamt schritt nach einem ›Notruf‹ der Kinder<br />

selbst beziehungsweise der Angehörigen ein, oder wenn Kinder,<br />

zumeist im frühen Schulalter‚ auffielen und von Dritten als<br />

schlecht versorgt gemeldet wurden. Das Spektrum der Anlässe<br />

für die Herausnahme aus der Familie reichte von langjähriger<br />

Vernachlässigung, unhygienischen Zuständen in der Wohnung,<br />

innerfamiliärer Gewalt, trinkenden oder psychisch kranken Eltern<br />

bis hin zu sexuellem Missbrauch durch Familienangehörige. Nach<br />

einem so schwierigen Start ins Leben verhielten sich die Kinder<br />

zum Teil auffällig. Sie waren Bettnässer, galten als Lügner oder<br />

verbockte Kinder, waren zu dünn oder zu dick. Je nach Umständen<br />

schickte das Jugendamt sie in ein traditionelles Kinderoder<br />

in ein heilpädagogisches Heim. Auch Pflegefamilien stellten<br />

eine bevorzugte Alternative dar. Die Kinder sollten in ihnen<br />

eine gesunde Familienwelt erleben. In manchen Fällen hatten<br />

die Kinder die Herausnahme aus der Familie herbeigesehnt<br />

oder reagierten jedenfalls erleichtert auf sie.<br />

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